"Gelungene Rekontextualisierung eines dioramatischen Details: Buchfink in seinem Lebensraum", 2011. Foto: Richard Schütz.
„Artistic Research and Museums“ Collections. Lessons from the Weltkulturen Museum, Frankfurt/Main. Präsentation und Diskussion mit Dr Clémentine Deliss (Weltkulturen Museum) und Otobong Nkanga. ZMO-Kolloquium 2012/2013. The Impossible Aesthetic: Situating Research in Arts and Social Sciences / Humanities. Zentrum Moderner Orient, am 31. Januar 2013, Berlin. Fotos: Stella Veciana.
„In Erinnerung abwesender Dinge“, Installation in der Ausstellung "Objekt-Atlas" im Weltkulturen Museum, Frankfurt/Main, 2012. Fotos: Stella Veciana.
Die obigen fünf Fotos gehören zu einer künstlerischen Fotoserie aus der Feldarbeit über eine Schausammlung mit historischen Präparaten des Fotografen Richard Schütz, 2003 - 2011.
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„Archive neu WertSchätzen": die Feldforschung in Sammlungen als Keimstätte der Zukunft. Stella Veciana im Dialog mit Richard Schütz.
Was soll das bedeuten: Sammlungen als Zukunftslabore? Sammler als „Schatzmeister“ von Zukunftsvisionen? Zumeist verbinden wir mit dem Bild eines Sammlers weniger das eines akribischen Detektivs der Zukunft als das eines emsigen Behüters der Vergangenheit. Wie auch immer unser Bild des Sammlers aussehen mag, eines ist gewiss, sie geben den Fundstücken in ihrer Sammlung einen kulturellen Wert. In einer Sammlung erhalten Objekte einen vom Menschen bestimmten Wert: einen Bedeutungswert, einen Genusswert oder einen Seltenheitswert, der ihren Preis steigert. Allerdings bestimmen stetig wandelnde kulturelle Werte auch, ob Artefakte in Sammlungen wieder aussortiert oder weiterhin für zukünftige Generationen aufbewahrt werden.
Sammlungsobjekte haben eine lange Vorgeschichte bevor sie in eine permanente Sammlung gelangen. Sie haben ihren Besitzer und Aufenthaltsort wahrscheinlich mehrmals gewechselt. Sie wurden verkauft, gestohlen, getauscht, vererbt oder verschenkt. Bei diesem regen Umherziehen gingen sie möglicherweise einfach verloren, oder wurden übersehen und vergessen. Es mag auch der Zufall mitgewirkt haben, ob sie Kriege überlebten oder mutwillig zerstört wurden. Vielleicht landeten sie nach einer Wohnungsentrümpelung im Zwischenlager eines Antiquariats oder verschwanden sogar in der Grauzone des Schwarzmarktes. Was letztendlich in das gesellschaftliche Vermächtnis einer Sammlung einverleibt wird, ist von vielen Faktoren abhängig. Hier soll es darum gehen wie wir mit dem vorhandenen Vermächtnis umgehen, um es in unserem kollektiven Gedächtnis präsent und lebendig zu halten.
Der Sammlung eines Naturkundemuseums kommt in Zeiten des rapiden Artenschwundes eine neue gesellschaftliche Aufgabe zuteil. Aber auch die Sammlung eines Weltkulturen Museums hat sich mit dem Schwund vieler indigener Kulturen mit offenen Fragestellungen auseinanderzusetzen. Wie kann der gesellschaftliche Auftrag des einstigen Völkerkundemuseums erneuert werden? Welche Verantwortung übernehmen Museen, wenn folgende Generationen frühere Gebrauchsgegenstände nicht mehr kennen und ihre einstige Bedeutung verloren geht? Oder wenn unsere Kindern gewisse Tierarten nicht mehr lebendig erleben werden können, weil es diese nicht mehr geben wird? Wie kann die Wertschätzung für Sammlungsbestände aktiviert werden? Wie können Wissenserfahrungsräume geschaffen werden, die uns anregen wirksam gegen den Arten- und Kulturenschwund vorzugehen? Diese Fragen werden mit dem Konzept der Forschungsmuseen und einer partizipativen Feldforschung begegnet. Es folgen zwei Beispiele wie es gelingen kann, einem im Archiv lagernden Sammlungsstück eine zukunftsweisende Bedeutung zu geben. Ein Beispiel, ist die wertschätzende und kooperative Feldforschungsmethode die die Museumsdirektorin Clémentine Deliss (*1960) für die Ausstellung "OBJEKT ATLAS" entwickelte und ein weiteres die subjektiv-dokumentarische Recherche und zugleich künstlerisch-transformative Arbeit des Fotografen Richard Schütz (*1965).
Der Vortragsraum im Zentrum Moderner Orient[1] ist überfüllt mit interessiertem Publikum. Die Aufmerksamkeit richtet sich gespannt auf Clémentine Deliss, der Direktorin des Weltkulturen Museums Frankfurt/Main und der in Amsterdam lebenden Künstlerin Otobong Nkanga. Deliss beginnt ihren Vortrag mit dem Hinweis auf Künstler der Neunziger Jahre, die sich bereits mit der ethnographischen Methode der Feldforschung auseinandergesetzt haben. Dazu gehört Fred Wilson (*1954). Wir erinnern uns an seinen doppeldeutigen Ausstellungstitel „Mining the Museum“ (1992), der auf eine „Sprengmine“ als einen bedeutungsvollen Fund verweist. In dieser Ausstellung stellt er neue Beziehungen zwischen den Sammlungsobjekten der „Maryland Historical Society“ her. Beispielsweise in der Vitrine "Metal Works, 1793-1880", in der silberne Kelche Handschellen aus Stahl gegenüberstellt werden. So wird die Museumspraxis erfahrbar gemacht, die verschiedene Bereiche wie die des "Schönen" und die des "Schrecklichen" trennt. Nkanga setzt sich in ihrer Arbeit im Weltkulturen Museum auch mit Sammlungsstücken aus Metall auseinander, mehr dazu später.
Beeindruckend ist auch die künstlerische Praxis von Lothar Baumgarten (*1944), der bereits Ende der Siebziger Jahre (1978-79) eine eigene Sammlung anlegte. In einem Gespräch mit Deliss beschreibt Baumgarten wie er nach 18 Monaten engen Zusammenlebens mit den im Amazonas heimischen Yanomani dazu kam, 1.200 Objekte, 500 Zeichnungen und 44 Stunden Tonaufnahmen zu sammeln: „Was da zunächst ganz ungeplant durch Tausch zusammengekommen war, ist durch Wertschätzung und Zuneigung (...) entstanden“.[2] Mit der Zeit hätten ihn insbesondere die zerbrechliche Vergänglichkeit der Dinge, der Kulturschwund der Yanomani durch Landnahme und verseuchtem Lebensraum, erschreckt: „Die mir immer bewusster werdende drohende Zerstörung ihrer gesamten Kultur hat mich alarmiert und bewogen, durch Tausch so viel wie sinnvoll zu sammeln und vor dem unabwendbaren Verlust zu retten“. Dabei hätte er gelernt wie bei den Yanomani selbst sich das Tauschen als Kontext in den Dingen einschreibt. Zum Beispiel enthalten ihre Pfeilspitzen Information über die Herkunftsgegend, Besitzer, Status und politische Allianzen. Der Tausch sei ein „sozialer Austausch von existentieller Bedeutung. Er gibt ihnen die Möglichkeit ihre Kenntnis ins Spiel zu bringen, Bestätigung zu erfahren, ihren sozialen Status durch einen guten Tausch öffentlich zu steigern oder zu verteidigen“. Jedoch gehen dem Museumsbesucher diese sozialen Kontexte, die die Bedeutung der Dinge bedingen, zumeist verloren.
Diesem Verlust des Kontextes und der persönlichen Annäherung will Deliss durch eine Praxis der Feldforschung im Museum entgegenwirken. Dafür hat sie ein Weltkulturen Labor im Museum eingerichtet, das KünstlerInnen ermöglicht in unmittelbarer Nähe des Archivs zu leben und zu arbeiten. Die Sammlung ist mit rund 67.000 Objekten aus Ozeanien, Australien, Südostasien, Amerika, Afrika und Europa bestückt. Vier Wochen haben die geladenen KünstlerInnen Zeit in einer der „Weltregionen“ zu recherchieren und mit den selbst ausgewählten Sammlungsstücken eigene Kunstwerke zu entwickeln. Denn KünstlerInnen arbeiten, so Deliss, zwischen Wahrnehmung und Form, Darstellung und Handwerkskunst und können gerade mit dieser experimentellen Expertise die Kontexte der Artefakte in ganz besonderer Weise vergegenwärtigten. Durch ihre Arbeit geben sie den Artefakten neue Sinnzusammenhänge und Verwendungen, die als „Prototypen“ verstanden werden können. Sie werden zu Prototypen zukünftiger Innovationen und können somit Antworten auf die ökologischen Fragestellungen des 21. Jahrhunderts geben. Als Gegenleistung für die „Residency“ hinterlassen die KünstlerInnen ein Werk, was gewissermaßen zur Schaffung einer „Sammlung über eine Sammlung“ beiträgt.
Ein teilnehmender senegalesischer Künstler, Issa Samb (*1945) beschreibt eine mögliche künstlerische Annäherung an eine Sammlung in mehreren Schritten: die Objekte in den Vordergrund stellen, das Lager begehen ohne gleich zu klassifizieren, Annahmen in Erinnerung bringen, von der rein ästhetischen zur menschlichen Dimension finden, Artefakte zu einem Prototyp aktuellen Geschehens „sozialisieren“ und schließlich als Prototyp "neu nummerieren", um somit die Klassifikationssysteme, die noch den „Keim des Rassismus enthalten“, kritisch zu hinterfragen. „Ethnographische Museen haben Kultur mit Zivilisation, Menschen mit Objekten durcheinander gebracht. Alle Menschen haben Kultur. Die Zivilisation ist eine Erfindung.“[3] Dies ist ein anderer Zugang, als der historisch wissenschaftliche zu einer Sammlung.
Die historische Motivation wissenschaftlicher Sammlungen beschreibt Bruno Latour in seinem Buch „Science in action“[4] als das Bedürfnis der Forscher ihre Entdeckungen „nach Hause zu bringen“. Maler wie Thomas Cole („Distant View of Niagara Falls“) und Frederic Edwin („Church in Heart of the Andes“) folgen Humboldt auf seinen Reisen nach Amerika und bringen ihre malerisch-dokumentarischen Studien nach Europa. Das entscheidende dieser Vorgehensweise ist, so Latour, der Akkumulationsprozess. Indem der Forscher seine Funde nach Hause bringt, können sie aus der Distanz untersucht werden. Danach würden andere Forscher, mit diesem Wissen gewappnet, andere Funde von den nächsten Expeditionen mitbringen. Dadurch wäre es möglich geworden, Einfluss auf andere Kulturen auszuüben ohne jemals dagewesen zu sein. Die Folge der Akkumulation von Wissen sei eine Asymmetrie zwischen dem Wissen der "Fremden" und der "Einheimischen", die zu der großen Kluft zwischen "Uns" und "Sie", Rationalität und Irrationalität, geführt habe. Während das Wissen der "Einheimischen" als lokal, vereinzelt und nicht-neutral dargestellt wurde, füge der Wissenschaftler seine Artefakte zum Netzwerk des Wissens einer Sammlung hinzu, die einen globalen, rationalen und desinteressierten Anspruch erhebe. Die "vereinzelten Kenntnisse" würden dem "universellen Wissen" gegenübergestellt. Diese Spaltung könne jedoch überwunden werden, indem die „Bewegung des Betrachters“, seine „Perspektive, Ausrichtung und Skala“ mit einbezogen würde. Künstler der Ausstellung „Objekt Atlas“, wie Samb oder Nkanga, scheinen mit einer sinnesverwandten Vorgehensweise zu experimentieren. Mit ihrer Herangehensweise hinterfragen sie den einstig enzyklopädischen und universellen Wissensanspruch von Sammlungen.
Die nigerianische Künstlerin Nkanga (*1976) sucht sich für ihre Arbeit „In Erinnerung abwesender Dinge“ Sammlungsstücke aus Metall aus: Waffen, Schmuck und Währung. Diese stellt sie zu den Werken, die sie in Lagos und Tilburg produziert hat. Hilfreich für die Entwicklung ihrer Arbeit sei insbesondere die unmittelbare Nähe des Labors und die greifnahe Dokumentation gewesen, einfach „alles an einem Ort zu haben“. Dabei hätte sie drei Phasen der Annäherung durchlaufen: In der ersten habe sie die Artefakte angeschaut, sich mit ihnen vertraut gemacht und einige wenige ausgesucht. Leider hätte während ihres Aufenthalts die Kustodin nicht zur Verfügung gestanden und sich so die Suche nach den Artefakten von der Inventarnummer bis zu seinem Lagerort als schwierig gestaltet. In der Zweiten Phase, hätte sie die Artefakte beobachtet, sich von ihnen berühren lassen. Sie hätte ein Bauchgefühl entstehen lassen, während sie über deren Geschichte las. In die Arbeit sei dadurch ein vielseitiges Wissen über Metallkunde, Geographie, aber auch über den Wandel der Werte und soziale Narrative eingeflossen. In der dritten Phase hätte sie die vorhandenen Objekte „in Bezug“ zu ihrer Arbeit gesetzt und eine eigene Idee dazu entwickelt.
Das besonders anregende an der künstlerischen Feldforschung im Weltkulturen Museum war für Nkanga, die seltene Gelegenheit sich den Artefakten hautnah zu nähern. Sie hätte sogar ihren Geruch erfahren können, der ja sonst zumeist hinter gläsernen Vitrinen abgesperrt ist. Andererseits, hätte sie aber auch eine schmerzhafte Erfahrung gemacht als sie feststellte, das ssie kaum eins der Objekte kannte, obwohl sie aus ihrem Herkunftsland stammten. Das hätte es ihr anfangs schwer gemacht einen Bezug zu den Artefakten herzustellen. Daher hätte für sie die Feldforschung die Frage aufgeworfen „wer du bist und woher du kommst“ bzw. „wer die Objekte tatsächlich gemacht hat“. Es hätte sie auch dazu geführt ihren künstlerischen Auftrag an sich zu hinterfragen: sollte sie nun eine eigene Arbeit dazu machen oder versuchen herauszufinden wem die Objekte gehört haben, um sie ihrem Herkunftsland zurück zu bringen? Oder könnten die Artefakte vielleicht auch anders „heimkehren“?
Aus diesen Fragestellungen heraus, entwickelte Nkanga allmählich einen ganz eigenen Bezug zu der Vergangenheit der Artefakte. Mit gedruckten Plakaten, Almanachen und gewebten Textilien schafft sie eine neue Form der Bildungs- und Vermittlungsarbeit, die jedem zugänglich sein soll. Jeder könne sich ein Plakat aufhängen. Jeder könne Plakate lesen, die eine Geschichte bzw. die Gebrauchsweise von Objekten erzählen. Es ginge ihr einerseits darum, NigerianerInnen nicht nur die Objekte als Form, sondern auch den mit ihnen verbundenen Lebensstil zu vermitteln. Andererseits, versuche sie den Objekten ihre Geschichte zurückzugeben, beispielsweise durch das Gedenken an die gefallenen Soldaten, die diese Waffen verwendeten. Ein neuer Umgang mit der Vergangenheit der Objekte ließe auch eine neue Gegenwart und Zukunft für sie entstehen. Denn der Wert der Objekte läge in der Bedeutung, die wir ihnen geben. Darüber hinaus, würden die Objekte in der Ausstellung selbst neu kartographiert. Dabei würden die Künstler dafür sorgen, „dass sich die Objekte von einem Gedanken zum nächsten, von einem Ort zum nächsten bewegen.“[5]
Durch die Arbeit der KünstlerInnen im Museum kommen die Objekte „in Bewegung“: sie bekommen eine neue Bedeutung, verändern ihre Geschichte und ihre Zukunft. Die Institution des Museums verläßt ihren einstigen Anspruch der „Akkumulation für ein universelles Wissen“ im Kontext der expandierenden Handelswege zu Zeiten des Kolonialismus. Das Museum wandelt sich zu einer „Ideenwerkstatt“ in der KünstlerInnen, KustodInnen, MuseumsmitarbeiterInnen und Museumsleiterin eng zusammenarbeiten. Angestrebt ist ein langzeitiger Arbeitsprozess, jenseits des Eventcharakters einer Ausstellung. Von der „Wunderkammer“ zur „Arbeitsstätte“ bekommen die Methoden der Feldforschung eine neue Ausrichtung. Im Falle von Nkanga könnte man sagen, sie gestalte einen Kommunikationswandel, der der Praxis eines zivilgesellschaftlichen Engagements ähnelt. Deliss bezeichnet diese Arbeit als „Prototypen“ für zukünftige Innovationen. Auf die Nuancen dieser Bezeichnung werden wir später noch einmal zurückkommen.
Bleibt die Frage inwiefern die Erfahrung der Feldforschung für einen Museumsbesucher tatsächlich nachvollziehbar wird. Inwiefern lässt sich die Feldforschungserfahrung bzw. die Zusammenarbeit der KünstlerInnen mit den MuseumsmitarbeiterInnen kommunizieren? Wird der Prozess der Neuinterpretation der Artefakte transparenter indem Künstler ihre ausgewählten Nachschlagewerke hinzufügen? Ist der Erfahrungsprozess durch die Lektüre der Interviews der KünstlerInnen mit der Museumsleiterin besser zu verstehen? Ganz bestimmt geben diese Texte weitere Informationen. Aber, letztlich sind die MuseumsbesucherInnen aufgefordert diese Neuinszenierung der Artefakte selber mit Bedeutung zu beleben. Die direkte Erfahrung des „Stöberns“ in den Archiven bleibt ihnen jedoch verwehrt. Könnte die Feldforschung im Museum also noch partizipativer gestaltet werden?
Das „Stöbern“ im Archiv ist eine Erfahrung, die auch der Künstler Richard Schütz gemacht hat. Neun Jahre lang hat er die Geschichte der Vogelsammlung eines Universitätsarchivs, vom Verfall bis zur Wiederbelebung, persönlich mitverfolgt. Dabei handelt es sich um eine zoologische private Schausammlung mit Insekten und exotischen Säugetieren, deren Kern aber eine bis zu 150 Jahre alte Vogelsammlung ist. Die Räume, in denen die bereits vernachlässigte Sammlung gelagert war, sollten für Unterrichtsräume umgebaut werden. Im Zuge von Umbauten sollte die Sammlung verkleinert bzw. ganz aufgelöst werden. Da es keine Gelder gab, um die Artefakte zu restaurieren oder auszustellen, wurden sie anderen Universitätsinstituten angeboten, die aber auch keinen Platz hatten oder nur notdürftige Zwischenlager bereitstellten. „Diesem Mißstand sind vermutlich viele Schausammlungen ausgesetzt, da ihr historischer Forschungswert verkannt oder nur noch als „Altlast“ betrachtet wird. Dies hat mich dazu bewegt, zuerst den Zustand der Sammlung exemplarisch zu dokumentieren und daraufhin mit künstlerischem Blick anders zu sehen.[6]
Schütz beschreibt in mehreren Schritten wie sich sein Annäherungsprozess an die Sammlung über die Jahre veränderte: Als ersten Schritt hätte er die Sammlung dokumentiert und den "Status Quo objektiv darzustellen" versucht. Daraufhin nahm er das Objekt von einer subjektiven Perspektive wahr und "überführte es in einen neuen Deutungszusammenhang". Ein Beispiel dafür ist der Schaukasten mit dem Adler, dem die Augen fehlen. Die fehlenden Augen stellen objektiv gesehen einen Makel dar und entwerten den Adler als wissenschaftliches Studienobjekt. „Für mich aber, wird der Adler dadurch gerade interessant. Er bekommt eine metaphorische Bedeutung. Er wird zu einem blinden Adler.“ Der einstige wissenschaftliche Vermittlungswert erweitert sich zu einer Reflektion über das Zuweisen bzw. Aberkennen von Bedeutung. Mit seinem fotografischen Blick verweist Schütz immer wieder mit dem Sichtbaren auf den Verlust, die Leerstelle, das Hinfällige.
Dementsprechend befasste er sich mit den achtlos in Kartons geschichteten Tierpräparaten, mit der arbiträren Akkumulation der Sammlungsstücke ohne jegliches Ordnungssystem. „Diese Behandlung hat mich berührt, da lagerten einst bedeutende Objekte, dekontextualisiert und der Zerstörung nah in der hoffnungslosen „Arche Noah“ von Umzugskartons.“ Seine fachliche Kenntnis in der Dermoplastik[7] ließ ihn den verwahrlosten Zustand der Sammlungsstücke erkennen. In seinen Fotografien verwandelt er jedoch den Eindruck des Chaos in eine Komposition, ein Stillleben mit Eiern. Die Schönheit der Komposition auf den ersten Blick, entpuppt sich auf den zweiten Blick "als Brutalität des Umgangs mit seinen Objekten". Nur scheinbar überwiegt "die harmonische Wirkung mit der Anmutung des Bewahrenden“.
Als Nächstes, fotografiert Schütz die in Plastiksäcken notdürftig verpackten Exponate. „Nun waren die Präparate unkenntlich gemacht und auf den Speicher verschoben. In den Abfallsäcken wurden sie wörtlich dem Bewusstsein entzogen. Mit winzigen Löchern in den Plastiktüten, habe ich ihnen noch einmal Augen gegeben“, meinte er zwinkernd. „Auf einmal scheint das Objekt den Betrachtenden anzusehen, wobei es selbst im Verborgenen bleibt.“ Dadurch redefiniert Schütz die Objekte, macht sie zu etwas Anderem, zu etwas was sich in der Bedeutung noch nicht zeigt. Sie sind nicht mehr als das erkennbar was sie sein sollten. Es ist der Versuch, den Bedeutungsträger von seiner Bedeutung zu befreien. In dieser Unkenntlichkeit verberge sich auch ein Potential. Im übertragenen Sinne, seien in seinen Fotografien auch gesellschaftliche Prozesse der Auflösung von Ordnung angedeutet, die zu Zerstörung, zu Leere oder eben zu einem Neubesetzen mit Bedeutung führen können.
Der fünfte Schritt führt den Prozess weiter, von einer unbestimmten Bedeutung der Artefakte zurück zu einer möglichen neuen Sinnaufladung. In den Vitrinen werden die Artefakte in einer Situation des Möglichen inszeniert. Hier zeigt sich "das Verborgene wie das Offenbare als poetisches Moment". Die bildlich überstrahlten Wesen gegenüber den schattenhaften Gestalten verwandeln sich in Andeutungen, die bewusst offen gehalten werden; sie werden zur Erscheinung. Als solche werden sie zugleich zu einem anderen Dritten, einem Bild als Bezugsobjekt, das über sich selbst, über seine Herkunft erzählt. Der Betrachtende kann dabei im Bezugsraum des Wahrnehmens und Anschauens seine eigene Erfahrung als Sichtweise einbringen, und das Angedeutete selbst vervollständigen. „Meine Intention ist alles und jedes wieder kommunizierbar zu machen, indem ich das was ich sehe neu erfinde, eine andere Bedeutung gebe oder auch nur in der Schwebe einer möglichen Bedeutung halte. Ein Vogel ist ein Vogel, ist ein Vogel, ist ein Vogel… so kann sich nichts neu erfinden, ein Vogel kann von seiner Begrifflichkeit und Dinglichkeit abweichend einen vielschichtigeren Bedeutungszusammenhang darstellen."
Das Schöne an der Geschichte dieser Schausammlung ist nicht nur, dass Schütz den Vögeln symbolisch ihre Freiheit zurückverlieh, indem er fotografisch ihr Schattendasein begleitete. Ausgelöst von einem bildungspolitischen Sinneswandel, der den Erhalt von musealen Sammlungen als Öffentlichkeits- sowie Forschungsprojekt vertritt, wurde die Studiensammlung kurz vor ihrem Aus doch noch größtenteils bewahrt. Einige der Exponate wurden zu Studienzwecken in Dioramen (Schaukästen) restauriert und ökologisch kontextualisiert. Dadurch bekam Schütz den Auftrag die Vögel „im besten Lichte vor dem Hintergrund ihres typischen Biotops“ zu fotografieren. Schütz stellt hier die Fotografie auch gerne in den Dienst der Vermittlung. Das Präparat in seiner ursprünglichen Funktion als "verfügbares Referenzobjekt" wird einem "kaum verfügbaren lebendigen Tier" gegenüber gestellt . Diese Darstellung heimischer Vögel steht auch im Kontext des Artenschwunds. Es soll nicht nur an Lebewesen erinnern, die kaum ein Mensch mehr kennt, da viele Arten, aufgrund ihrer zerstörten Habitate verschwinden, sondern auch auf Spezies als "ökologische Indikatoren" verweisen.
Wie bei Nkanga, kommen auch bei Schütz die Sammlungsobjekte „in Bewegung“. Ihr Kontext und ihre Bedeutung ändert sich im bildlichen Erzählen ihrer Geschichte und ihrer Zukunft als Vorstellung. Beide künstlerische Ansätze hinterfragen den Umgang mit Sammlungen. Hier stellt sich wieder die Frage, was verbindet einen naturwissenschaftlichen mit einem kulturwissenschaftlichen Sammlungsansatz? Und in der Folge die Frage, was könnte den Forschungs- und Bildungsauftrag eines Weltkulturenmuseum mit dem eines Naturkundemuseums verbinden? Beide Künstler reflektieren über von Menschenhand gestaltete Objekte, die spezifische Funktionen erfüllen. Im Kontext des Musealen führt Deliss den Begriff des „Prototyp“ ein. Nkanga hat, im Kontext dieser Begrifflichkeit, einen Prototyp „der Erinnerung abwesender Dinge“ für die Zukunft geschaffen. Bei der künstlerischen Auseinandersetzung von Schütz könnte man demnach von der „Anwesenheit dissoziierter Kontexte“ sprechen.
Jedenfalls verspricht das Konzept des Prototyps eine offene Möglichkeitsform und deren Weiterentwicklung, im Gegensatz zur abgeschlossenen Erscheinung des Stereotyps. Allerdings wird das Prototypische mit Methoden der Massenproduktion verbunden, bei der die „verallgemeinernde Form“ eines Produkts das Ziel ist. Schütz möchte sich nicht in diesem Kontext verorten, denn seine Arbeit sei subjektiv und meta-kommunikativ orientiert. Zwar würde er auch das Modellhafte und Experimentelle von wissenschaftlichen Versuchsanordnungen aufgreifen, aber mit einem anderen Ziel und Ergebnis. Er betrachte ein Phänomen als Impuls zur Kontemplation. Meta-Kommunikation herzustellen sei, was im Wesentlichen die Kunst von der Wissenschaft und Technik unterscheide. Anders als in der Funktion und Nutzen eines Prototyps, pendele das Selbstverständnis des Künstlers zwischen dem praktischen und symbolischen Wert. Kommunikation sei aber auch, was die Kunst mit der Wissenschaft verbinde, im Transformieren und vermitteln von Welt mittels kommunikativer Techniken und Formen. Eine kommunikative Form stelle ein Angebot von Erkenntnis dar, die den Betrachtenden anregen kann diese mit seinem eigenen Wissen zu vergleichen und weiterzuentwickeln; das sei inspirierend. Ob nun Prototyp oder kommunikative Form, beide regen uns an Sammlungsobjekte anders Wert zu schätzen und Sammlungen als ein Versuchsfeld bzw. Keimstätte der Zukunft zu nutzen.
↑ 1. „Artistic Research and Museums“ Collections. Lessons from the Weltkulturen Museum, Frankfurt/Main
Präsentation und Diskussion mit Dr Clémentine Deliss (Weltkulturen Museum Frankfurt/Main) und Otobong Nkanga (Amsterdam). ZMO-Kolloquium 2012/2013. The Impossible Aesthetic: Situating Research in Arts and Social Sciences/Humanities. Zentrum Moderner Orient, am 31. Januar 2013, Berlin. In Zusammenarbeit mit Prof Dr Kerstin Pinther und Prof Dr Tobias Wendl (Freie Universität Berlin).
↑2. Alle Zitate zu Baumgarten sind entnommen aus: „OBJEKT ATLAS“. Katalog zur Ausstellung. Hrsg.: Clémentine Deliss. Bielefeld : Kerber Verlag, 2012, S. 405-6.
↑3. Clémentine Deliss, op. cit. S. 37.
↑4. Bruno Latour. „Science in action.“ Open University Press. Stony Stratford, 1987.
↑5. Clémentine Deliss, op. cit. S. 165.
↑6. Alle Zitate stammen aus einem Gespräch von Richard Schütz mit Stella Veciana am 1. April 2013.
↑7. Dermoplastik (griechisch derma = Haut, plastein = bilden), Taxidermie (griechisch für Gestaltung der Haut) ist eine Kunst der Haltbarmachung von Tierkörpern für Studien- oder Dekorationszwecke. Die Taxidermie wird an Wirbeltieren vorgenommen. Sie ist damit ein Teilgebiet der Tierpräparation.
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