Klangsport. Falls nicht anders gekennzeichnet Fotos von Antje Ludwig.
Klangsport. Aufspüren S a m m l u n g d e s D a t e n m a t e r i a l s
Atemkakkophonie, Arbeitskizze von Marina Sahnwaldt.
Diagramm: Raum der sozialen Positionen und Raum der Lebensstile. (Bourdieu 1998: 19). Die farblichen Markierungen sind in Eigendarstellung
zugefügt. Die Positionierung der spezifischen KLANGSPORT Felder sind rein
hypothetisch. Markierungen von Marina Sahnwaldt.
Lesart eines Partiturausschnitts, Arbeitskizze von Marina Sahnwaldt.
Klangsport. 2 ... : Begegnen P e r s p e k t i v e n w e c h s e l
Fotos aus Probenprozessen und der Aufführung "Klangsport in Kooperation mit dem ASV Senden. Unterstes Foto: Kai Niegemann.
Klangsport. 1 ... : Kreieren k ü n s t l e r i s c h e T r a n s f o r m a t i o n
Dieser Plan ist fiktiv aufgestellt, er orientiert sich jedoch an vorherige Erfahrungen in der Zusammenarbeit mit dem Sportamt der Stadt Münster und der Turngemeinde Münster e.V. Plan: Marina Sahnwaldt.
Probenprozess in der Gymnastikhalle des TG Münster e.V..
Klangsportlerportrait.
Klangsport. l o s! : Anwenden P r a x i s t r a n s f e r
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K L A N G S P O R T. Transdisziplinäre Forschungsansätze
einer akustisch-performativen Entdeckungsreise
durch den (Hallen)Sport.
Marina Sahnwaldt
Im Folgenden beschreibe ich die Reiseroute einer akustisch-performativen Entdeckungsreise durch den (Hallen)Sport. Die Ergebnisse der Reise etablieren ein neues Format, welches ich unter dem Namen KLANGSPORT vorstellen möchte.
Zunächst durchläuft die Reiseroute drei Stationen: Den Ausgangspunkt bildet das Aufspüren des Klangmaterials. Darauf folgt die neue Begegnung mit dem entdeckten Material und weiter die Kreation desselben. Schliesslich lassen sich diese Stationen als eine Hinführung zu einer vierten Etappe verstehen, die sich in der praktischen Anwendung formiert. Alle vier Etappen lassen sich im wissenschaftlichen Kontext methodisch anwenden: von der Sammlung des Datenmaterials über den Perspektivenwechsel und die künstlerische Transformation hin zum Praxistransfer. Im sportlichen Sinne kann die Gliederung als ein Countdown wie folgt aufgeführt werden:
3 ... : Aufspüren S a m m l u n g d e s D a t e n m a t e r i a l s
2 ... : Begegnen P e r s p e k t i v e n w e c h s e l
1 ... : Kreierenk ü n s t l e r i s c h e T r a n s f o r m a t i o n
l o s! : Anwenden P r a x i s t r a n s f e r
Der Countdown: 3..., 2..., 1... los!, der hier vertikal dargestellt ist, würde im Sport beispielsweise den Startverlauf eines Sprints anzählen. Im Zusammenhang dieser Arbeit markiert er drei gliedernde Schritte, welche das neue Format zielführend zur Anwendung bringen werden.
Der Beginn der Entdeckungsreise wurde 2009 gemeinsam mit den Komponisten Markus Kuchenbuch, Kai Niggemann und Stephan Froleyks sowie dem Schauspieler und Musiker Jan Sturmius Becker und weiteren Akteuren aus Sport und Musik im westfälischen Münster unternommen.[1] Untersuchungsgegenstand der Expedition ist die Geräuschkulisse des (Hallen)Sports. Was sich sprachlich in wenigen Worten fassen lässt, öffnet bei einer näheren Analyse eine Vielzahl von Ansätzen, die es zu erforschen gilt. Im Rahmen dieses Artikels will ich die Forschungsanliegen identifizieren und in einem transdisziplinären Kontexten entwickeln, um schliesslich ein Experimentierfeld zu entfalten, auf deren Grundlage spätere Auseinandersetzungen folgen sollen.
3 ... : Aufspüren S a m m l u n g d e s D a t e n m a t e r i a l s
Ausgangspunkt dieser Reise ist ein Ort an dem Sport und Bewegung stattfindet. Natürlicherweise hinterlässt jegliche Bewegung akustische Spuren. Jede sportliche Disziplin bringt dabei ihre eigene spezifische Klangkulisse hervor. Hieraus folgt, dass eine Sporthalle in ihrer wesentlichen Bestimmung nicht im Zustand der Stille vorzufinden ist. Und mehr noch, sie bietet eine besondere Akustik und ist einem Klangkörper gleich. Gewöhnlich werden die hier anfallenden Klänge kaum registriert. Erreichen sie das Bewusstsein unserer Wahrnehmung, nehmen wir sie mehr als Störung, denn als ästhetisch reizvoll wahr. In diesem Sinne ist das Vorgefundene kaum mehr als ein akustisches Abfallprodukt.
Doch ob unbewusst oder als störender Lärm, die anfallenden Geräusche sind vielen Menschen aus alltäglichen Zusammenhängen vertraut. Sei es aus dem Schulsport, dem Verein oder anderen Trainingszusammenhängen, das Quietschen der Sportschuhe auf dem Hallenboden, das Prellen von Basketbällen, das Schieben der Sportmatten oder den Aufschlag beim Tennis assoziieren wir mit eigenen sportlichen Erfahrungen. Die Klänge dringen an unser Ohr und bleiben zumindest im Unbewussten verhaftet. An dieser Stelle setzt die Konzeption an. Die akustischen Reize werden im KLANGSPORT in ein musikalisches Bewusstsein gerückt, performativ in Szene gesetzt und dadurch ästhetisch erlebbar.
Die aufgespürte Geräuschkulisse bietet ein klanglich reizvolles Rohmaterial und eine vielfältige Quelle für einen künstlerischen Recycling Prozess, der das Vorgefundene im künstlerischen Sinne verwertet, anwendet und Neues entstehen lässt.
2 ... : Begegnen P e r s p e k t i v e n w e c h s e l [2]
Es ist offensichtlich, dass die KLANGSPORT Initiative von Seiten der Musik ausgeht. Daher ist es wichtig zu betonen, dass die musikalische Neugier keine Invasion in sportliche Felder plant. Ein grundlegender Anspruch der KLANGSPORT Idee ist die Kooperation. Es gilt eine charmante Liaison zwischen Sport und Musik, Musiker_innen und Sportler_innen zu etablieren und Synergien zu schaffen. So charmant dieses Vorhaben klingen mag, in der Praxis erweist sich, dass hier zwei sehr unterschiedliche Charaktere zusammengebracht werden.
Sowohl Sport als auch Musik sind zwei populäre gesellschaftliche Aktionsfelder. Aber was haben beide miteinander zu tun? Vordergründig folgen sie zunächst ähnlichen organisatorischen Strukturen. Beispielsweise stellen Sportler_innen Mannschaften auf, trainieren, treten gegen einander an, halten sich fit, kommen in Bewegung. Bei Musiker_innen ist es ähnlich. Sie gründen Chöre und Orchester, proben, treten zusammen auf, hören zu, kommen in Bewegung. Die Komposition einer Fuge folgt einem festen Regelsystem. Der Verlauf eines Fußballspiels ebenso. Beide Disziplinen bewegen sich in spezifischen Kontexten. Um diese Kontexte näher zu erforschen, wird es notwendig sein die Strukturen beider Felder genauer zu analysieren. So öffnet sich neben der künstlerischen Motivation ein kultursoziologischer Diskurs, den ich mit der Feldtheorie des Soziologen Pierre Bourdieu weiterentwickle.
Bourdieu differenziert mit dem Begriff des sozialen Feldes gesellschaftliche Bereiche, die durch spezifische Ressourcen und eigene Spielregeln das soziale Verhalten innerhalb dieses Feldes charakterisieren (vgl. Müller 1992: 263). Nach Bourdieu sind die Regeln eines Sozialen Feldes historisch gewachsen. Akteure, die sich in ein bestimmtes soziales Feld begeben, akzeptieren unreflektiert die impliziten Spielregeln. (Vgl. Bourdieu, Beister, Schwibs 2001: 110). Mit dem (Feld-)Eintritt in eine Fußballmannschaft akzeptiert ein Neuling die Spieldauer von 90 Minuten, die elfköpfige Mannschaftsaufstellung sowie die Nutzung eines Fußballs und das begrenzte Spielfeld, wie die Abseitsregeln. Was passiert aber, wenn eine Musikerin, ein Musiker das Feld betritt und ihre bzw. seine eigenen Regeln mitbringt? Die musikalische Idee rüttelt an den normativen Regelsystemen im Sport. So könnte KLANGSPORT die sportliche Intention des Höher, Schneller, Besser außer Kraft setzen, um Regeln aufzustellen, die sich an künstlerischen Motiven orientieren.[3] Diese Idee geht auf eine Tradition zurück, die im Folgenden kurz vorgestellt werden soll.
In der musikalischen Klassik sind Regelbrüche dieser Art bereits seit Beginn des 20. Jahrhunderts bekannt. Bis dato waren musikalische Parameter wie Tonalität, Harmonie, Rhythmus, Kontrapunkt und Instrumentierungen durch feste Regelsysteme etabliert. Doch dann betraten Komponisten wie Arnold Schönberg, Alban Berg und Anton Webern das Feld der klassischen Musik. Sie suchten nach neuen musikalischen Erfahrungen und provozierten mit ihren Kompositionstechniken die traditionellen Parameter und vor allem die Hörgewohnheiten des Publikums. Viele weitere Komponist_innen sollten der Strömung, die unter dem Kollektivum der Neuen Musik bekannt wurde, folgen.
Auch KLANGSPORT findet hier seine Inspiration.[4] Doch während sich die Neue Musik von normativen Regeln befreien will, sucht KLANGSPORT das Regelsystem eines musikfremden Feldes auf, um ihm neu zu begegnen und eine konstruktive Schnittmenge zu ihm zu generieren. Dieser Prozess lässt sich möglicherweise mit Bourdieus Diagramm des sozialen Feldes visuell darstellen. In seiner Grafik (Abb.1) positioniert Bourdieu unter anderem sportliche und musikalische Komponenten in einem zweidimensionalen Koordinatensystem, die gewisse Lebensstile spiegeln. Vertikal ist das kulturelle und ökonomische Kapital bestimmt, während im horizontalen Verlauf das Gesamtkapital aufgezeigt wird. Berufsgruppen und Lebensstile sind hinsichtlich ihrer Präferenz darin positioniert. In den oberen Quadranten sind zum Beispiel Klavier und Golf zu finden, in den unteren Fußball und Akkordeon.
Für die Analyse der Begegnung von Sport und Musik müssen eigene Einheiten bzw. Felder bestimmt und in jene Koordinaten positioniert werden. Eine exakte Darstellung würde notwendigerweise eine empirische Beobachtung beider Felder voraussetzen. Als KLANGSPORT spezifische Untersuchungsfelder könnten Sportvereine und Vereine für Neue Musik herangezogen werden. Eine Positionierung in die vorgegebenen Koordinaten würde die räumliche Distanz zwischen beiden abbilden. Die visuelle Darstellung ermöglicht die Interpretation jener Distanz und öffnet einen Gestaltungsraum für die künstlerische Kreation.
Die roten Verbindungslinien in Abb.1 verdeutlichen die Distanz zwischen den KLANGSPORT spezifischen Untersuchungsfeldern und markieren den Gestaltungsraum, der mit künstlerischen Mitteln überwunden werden soll.
1 ... : Kreieren k ü n s t l e r i s c h e T r a n s f o r m a t i o n
In dem Gestaltungsraum, der im vorherigen Kapitel herausgearbeitet wurde, existiert das in Kapitel 3 … aufgespürte Klangmaterial bisher in einer Rohfassung - anarchisch und im musikalischen Sinne unwillkürlich. In der nächsten Etappe gilt es dieses Material im ästhetischen Sinne zu gestalten. Die folgende Deskription sogenannter Klangbausteine, so der Name kleiner in sich geschlossener Kompositionen oder Improvisationsvorlagen, soll die künstlerische Transformation praxisnah vermitteln.
1a ... : Atem k ü n s t l e r i s c h e T r a n s f o r m a t i o n
Die Klangbausteine orientieren sich an Bestandteilen, die gleichermaßen im Sport und in der Musik anzutreffen sind und im neu generierten Gestaltungsraum zusammentreffen. Als ein grundlegendes, homogenes Element liessen sich Atemtechniken in Sport und Musik identifizieren. Im Sport sind sie von Bedeutung um den Körper zu beherrschen, in der Musik gilt es mit verschiedenen Techniken das Instrument zu beherrschen. Der Blasinstrumentalist Markus Kuchenbuch hat sich im Rahmen dieses Projektes mit dem Aus-der-Puste-sein beschäftigt. Zunächst liess er eine Gruppe von sportlichen Musiker_innen durch die Halle laufen. Dabei sollten die Teilnehmer_innen ihre Kondition bis ans Maximum ausreizen. Das so gewonnene Hecheln, was hier als Rohmaterial hervortritt, wurde mittels selbstgebauter Blasinstrumente, bestehend aus Schläuchen, Trichtern und Rohren, in die die Musiker_innen ausatmeten, hörbar gemacht.
Es entstand eine Atemkakophonie, die zu Beginn durch die körperliche Anstrengung wild und hektisch erklang. Erst mit physischer Beruhigung wurde auch die Kakophonie immer ruhiger. Kuchenbuch nutzte diesen Klangteppich für eine Improvisation mit Kontrabassflöte. Die Flötenimprovisation inspirierte wiederum die Klangsportler_innen, spielerisch mit den selbstproduzierten Klängen umzugehen und dialogisch in Kontakt zu kommen.
1b ... : Sound Design k ü n s t l e r i s c h e T r a n s f o r m a t i o n
Die Atemkakophonie zeigt, dass Klänge vorhanden sind, die in ihrer bloßen Existenz der Verstärkung bedürfen, um hörbar zu werden. Dieser Option nahm sich der Sounddesigner Kai Niggemann an. Er spürte kleine, filigrane Geräusche auf, vervielfältigte und verfremdete sie spielerisch. So lädt beispielsweise das Quietschen von Trampolinfedern zu einer solchen Komposition ein. Die ursprüngliche Geräuschkulisse des Trampolin Springens ist von langen stillen Pausen geprägt, in denen die Springerin, der Springer in der Luft schwebt. Die Stille ist durch das zyklische Quietschen der Federn durchbrochen, welche der_die Springer_in in Bewegung bringt, sobald er_sie das Sprungtuch für den nächsten Sprung passiert. Mit der Mikrofonierung der Sprungfedern wird das Quietschen hörbar.
Die Möglichkeit der Gestaltung ergibt sich indem einzelne Federn mit Tönen, beispielsweise verschiedener Höhen, belegt werden. Wenn die Federn aktiviert werden, können beliebig viele Töne erklingen, die beispielsweise elektronisch konstant gehalten oder auch dynamisch kreiert werden können. So kann eine mikrofonierte Feder laut anklingen und verhallen (Decrescendo) oder umgekehrt kann der entstandene Ton anwachsen (Crescendo). Auf einem weiteren Trampolin können dagegen andere Regeln geltend gemacht werden. So könnten hier Elemente in Stakkato Form produziert und weiterentwickelt werden.
Der oder die Springer_in ist in diesem Fall angehalten nach der musikalischen Partitur, nicht nach sportlichem Ausdruck zu springen. Die Regelverschiebung, die in Kapitel 2 … hervorgehoben ist, findet hier ihren Ausdruck.
1c ... : Rhythmus k ü n s t l e r i s c h e T r a n s f o r m a t i o n
Wie die Atmung können auch Rhythmen als kongruente Schnittmenge zwischen Sport und Musik erkannt werden. Rhythmen bilden einen wesentlicher Bestandteil in der Musik. Im Sport nehmen sie eine sekundäre Rolle ein, sind aber nicht minder von Bedeutung. Das Beispiel eine_r Hürdenläufer_in verdeutlicht die rhythmische Relevanz. Kommt der_die Sportler_in aus dem Laufrhythmus, werden die Hürden zu Stolperfallen.
Der Percussionist Stephan Froleyks konzentrierte sich in seiner KLANGSPORT Arbeit auf den Körper als Klangkörper. Er entdeckte in Oberarmen, Brust, Bauch, Po und Schienbeinen Klangzonen mit unterschiedlichen Klangfarben und entwickelte hieraus Sequenzen für Bodypercussions. Den Teilnehmer_innen war eine Konzentration abverlangt, um in Gruppen dialogisch zu interagieren. Zudem wurde ein Orchester mit Bällen unterschiedlicher Klangfarben und weiterer Sportinstrumenten aufgestellt.
Die hier vorgestellten Klangbausteine lassen unterschiedliche Schwierigkeitsniveaus erkennen. Viele Bausteine sind leicht zugänglich und integrieren heterogene Teilnehmergruppen. Andere Bausteine dagegen bedürfen eine Herangehensweise durch Expert_innen. Somit ist im KLANGSPORT auch eine Zusammenarbeit von Profis und Laien gefragt. Diese Tatsache bietet einen Anreiz für die Anwendung des Formates in vielfältigen Zusammenhängen die über das rein künstlerische Interesse hinaus gehen. Mögliche Anwendungsfelder werden im Kapitel l o s! diskutiert. Zunächst soll jedoch ein weiterer Ansatz vorgestellt werden, der sich dem Rohmaterial auf einer Metaebene künstlerisch annähert.
1d ... : Urbane Sportsymphnie k ü n s t l e r i s c h e T r a n s f o r m a t i o n
Die Bezeichnung Sport-Halle verweist auf zwei wesentliche Merkmale, nämlich a) dass es sich hier um einen Raum handelt, an dem b) Sport und Bewegung stattfindet. Wie sich in Kapitel 3 … herausgestellt hat, hinterlässt jegliche Bewegung natürlicherweise akustische Spuren. Und jede sportliche Disziplin bringt dabei ihre eigenen spezifischen Klänge hervor. Im kausalen Zusammenhang folgt hieraus, dass eine Sporthalle in ihrer wesentlichen Bestimmung nicht im Zustand der Stille vorzufinden ist. Von dieser Betrachtung aus lässt sich auf einer Metaebene eine urbane Sportsymphonie entdecken, die auf die Verwaltung dieses Klangköpers zurückzuführen ist.
In der Regel sind Sporthallen städtische Anlagen, die für den Schulsport und Sportvereine bereitgestellt werden. Die Belegung der Hallen wird durch die Stadtverwaltung, zumeist von den Sportämtern, reglementiert. Mit der Vergabe der Hallen stimmt der städtische Verwaltungsakt ungewollt eine urbane und zyklische Sportkakophonie an. Ein fiktiver Belegungsplan der Dreifachhallen in Hamburg Harburg verdeutlicht diesen Moment.
Die wöchentliche Planung legt verlässlich eine spezifische Klangkulisse an entsprechenden Standorten in der Stadt fest. Hier sind keine festen Symphonien vorzufinden, doch wiederkehrende Klangfarben, Rhythmen und Instrumentierungen bieten verlässliche musikalische Parameter. In Halle C/Feld 1 erklingt das Trippeln der Gymnastikschuhe, während die Motivationsrufe der Rugby-Mannschaft in C2 einen tiefen Kontrapunkt setzen. Das rhythmische Klackern der Tischtennisbälle, konterkariert die Atemtechnik des Aikido und die Klangkulisse beim Mutter-Kind-Turnen lässt höhere Töne erwarten als im Training der Leichtathlet_innen.
Das Sportamt folgt selbstverständlich den organisatorischen Regeln der Verwaltung. Während die Vereine, der Vereinsstruktur und die Sportlerinnen und Sportler den sportlichen Spielregeln folgen. Die sportliche Klangkulisse, die in einer Stadt vorgefunden wird, ist demnach willkürlich und kakophonisch. In diesem akustischen Chaos findet KLANGSPORT ein faszinierendes Rohmaterial. Eine performative Aufführung würde eine live-Schaltung in jede Halle erfordern, die zentral gebündelt auf einer Bühne zusammengeschaltet sind.
l o s! : Anwenden P r a x i s t r a n s f e r
Die Synergien, die aus der Verbindung von Sport und Musik hervorgehen, weisen vielfältige transdisziplinäre Forschungsansätze auf. Drei Etappen dieser Expedition haben ein breites Experimentierfeld und einen Gestaltungsraum, sowohl im praktisch-künstlerischen, als auch im theoretischen Diskurs entfaltet. Die Anwendung im künstlerischen Feld ist in Kapitel 3 aufgezeigt worden. Der Praxistransfer ist darüber hinaus auch in weiteren Anwendungsgebieten denkbar und teilweise bereits in Ansätzen erprobt.
Die Distanz zwischen Sportvereinen und Vereinen der Neuen Musik, die sich in Anlehnung an Bourdieus Diagramm zumindest hypothetisch aufgetan hat, lässt Unterschiede zwischen den diametralen gesellschaftlichen Aktionsfelder vermuten. Die Erfahrung des Vorprojekts hat eine Kluft zwischen beiden Feldern bestätigt und Differenzen aufgezeigt, die den Prozess in den Anfängen mehr erschwert als konstruktiv befruchtet haben. Die Sportler_innen der kooperierenden Turngemeinde Münster waren mehr auf das traditionelle Training, denn auf musikalische Experimente konzentriert. Und auch die Verbindung auf der städtischen Verwaltungsebene war zwischen Sport- und Kulturamt nur bedingt umsetzbar.
Die Hürden, die 2009 auftraten, kosteten eine immense Aufmerksamkeit und ein euphorisches Bemühen, was schliesslich von der künstlerischen Forschung ablenkte. So sind die musikalischen Möglichkeiten längst nicht ausgeschöpft. Sie reichen von der Weiterentwicklung einzelner Klangbausteine bis hin zur urbanen Sportsymphonie. Doch das euphorische Bemühen hat auch einen wertvollen Nebeneffekt bewirkt. Das Projekt hat heterogene Menschengruppen zusammengeführt. Nicht allein die Zusammenarbeit zwischen Sportler_innen und Musiker_innen, Expert_innen und Laien wurde befördert. Menschen verschiedener Hintergründe und Altersstufen liessen sich von der Entdeckungsreise inspirieren. Viele Rezipient_innen nahmen an Schnuppertrainings teil, bei denen das künstlerische Leitungsteam die kompositorischen Ideen erprobte und oft erstmals umsetzte. 20 KLANGSPORTLER_INNEN wirkten aktiv an der Uraufführung der ersten KLANGSPORT Revue mit.[5]
Einen weiteren Bereich erkundete die Sporttherapeutin Jutta Muche. Sie erprobte das Konzept in der Sporttherapie mit Patienten der Forensischen Psychiatrie in Köln Porz. Dabei stiess sie auf beachtliche therapeutische Erfolge. Die Projektarbeit ermöglichte den Patienten ein sinnliches Erleben und förderte ihre soziale Kompetenz, die gruppendynamischen Prozesse in Bewegung brachte. Diese Erfolgsparameter können ebenso Senioren, Kinder oder andere Teilnehmergruppen aktivieren und motivieren.
Der transdisziplinäre Ansatz des Konzeptes öffnet sowohl übergreifende Forschungsansätze als auch vielfältige Anwendungsgebiete. Ein KLANGSPORT Erlebnis löst sowohl bei Teilnehmer_innen, Rezipient_innen als auch Akteuren Verwunderung aus. Der KLANGSPORTLER Coskun Özdemir bringt seine Verwunderung wir folgt zum Ausdruck: „KLANGSPORT ist die erste Form von Musikrezeption, die Muskelkater hinterlässt.”
Bis heute bin ich neugierig, wohin mich diese Entdeckungsreise noch führen mag.
↑ 1. Das erste KLANGSPORT Projekt wurde 2009 mit zwanzig sportlichen Musiker_innen und musikalischen Sportler_innen in Kooperation mit dem LandesSportBund NRW, der Turngemeinde Münster e.V. und dem Sportamt der Stadt Münster zur Uraufführung gebracht. Es folgten Aufführungen im Münsterland, Dortmundund Frankfurt. Einen visuellen und klanglichen Einblick gewährt das Projekt unter folgendem Link: http://klangsport.blogspot.de
↑ 2. Das Kapitel versteht sich als ein erster Versuch der kultursoziologischen Interpretation.
↑ 3. Ein Beispiel hierfür ist die Trampolin-Sequenz, die in Kapitel 1b … : Sounddesign vorgestellt wird.
↑ 4. Am ehesten ist KLANGSPORT der Stilrichtung der Musique concrète zuzuordnen. Sie zeichnet sich dadurch aus, dass sie mit konkret vorgefundenen Klängen arbeitet. Als wesentliche Inspirationsquelle kann das Werk des Komponisten John Cage angeführt werden, der den Moment der Stille in der Musik revolutionierte. Er inspirierte das Publikum die Aufmerksamkeit auf die umgebenden Geräusche zu lenken und überliess ihnen, beispielsweise mit seinem Werk „4'33“, die Abwesenheit von Musik.
↑5. Jule Balandat, Dennis Becker, Alina Berger, Friederike Buettner, Scarlett Fastenrath, Eva Maria Grönenberg, Luise Hänsel, Petra van Husen, Anna Imhoff, Barbara Kiwitt, Marcel Mohn, Belinda Oberhaus, Coskun Özdemir, Elke Pelster, Roman Pelster, Probst, Tobias Richter, Friederike Schmelzer, Katja Schnier,
Konstantin Schumann, Katrin Schulz, Oliver Schwantge, Laura Stach, Stefan Starick, Sarah-Mareen Weiß,
Jennifer Whelan, Robert Wieczore, Bruno Wilken, Ludwina Wilken.
Literatur
Bourdieu, Pierre (1998): Praktische Vernunft. Zur Theorie des Handelns.
Frankfurt am Main: Suhrkamp. 19.
Bourdieu, Pierre; Beister, Hella; Schwibs, Bernd (2001): Soziologische Fragen.
Dt. Erstausg., 1. Aufl., [Nachdr.]. Frankfurt am Main: Suhrkamp. 110.
Müller, Hans-Peter (1992): Die soziokulturelle Ungleichheitstheorie. In: Müller, Hans-Peter (Hg.): Sozialstruktur und Lebensstile. Der neuere theoretische Diskurs über soziale Ungleichheit. 1. Aufl. Frankfurt am Main: Suhrkamp. 238–351.
Sahnwaldt, Marina (2009): KLANGSPORT.
http://klangsport.blogspot.com (Stand: 18.03.2014).
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