Seit 2011 hinterfragt die Diskussions- und Aktionsplattform Haben und Brauchen die Lebens- und Produktionsbedingungen für Kunstschaffende und verwandte Akteure in Berlin. Am 10. Mai 2011 legte Haben und Brauchen dem Kultursenat einen „Fahrplan zum Entwicklungsplan der Kunststadt Berlin“, kurz Kunstplan, vor. In diesem wurde auf die Notwendigkeit hingewiesen, einen kontinuierlichen überparteilichen Dialog zwischen dem Senat, der freien Szene und Vertretern der Kunstinstitutionen der Stadt zu führen. Unter dem Titel “K2″ fand am 15. November 2012 eine Dialogveranstaltung statt, mit repräsentativen Vertreter/innen aller Fraktionen der Berliner zeitgenössischen Bildenden Kunst, Künstler/innen, der freien Szene, öffentlicher Institutionen und des Kunstmarktes um ein Leitbild für den Kunststandort Berlin zu entwickeln, und daraus Handlungsfelder für die Förderpolitik des Senats abzuleiten. Im Folgenden wird der Konzeptentwurf des Kunstplans für einen langfristigen Dialogprozess vorgestellt, der bis Juni 2014 in einem kollektiven Schreibprozess entwickelt wurde. »Konzept für einen längerfristigen Dialogprozess zwischen freien und institutionellen Akteuren der zeitgenössischen Kunst und dem Berliner Senat«
Haben und Brauchen unter Mitarbeit von VertreterInnen des berufsverbands bildender künstler berlin e.V. (bbk berlin)
VORBEMERKUNG
Bitte wenden
Die gigantische Verteuerung und das Scheitern von Großprojekten, der Protest der Sozialmieter gegen unsoziale Mieten und zuletzt der klare Volksentscheid für eine freie „Tempelhofer Freiheit“ lassen nur einen Schluss zu: Bitte wenden, liebe Berliner Stadtpolitik. So geht es nicht weiter.
Mitte der Nullerjahre schien bereits eine Umkehr in Sicht: Mit der von der
Senatsverwaltung für Stadtentwicklung beauftragten und 2007 veröffentlichten Studie „Urban Pioneers — Stadtentwicklung durch Zwischennutzung“ wurden zumindest nachträglich die Leistungen der ZwischennutzerInnen anerkannt, diese jedoch als billiges Stadtentwicklungs-Tool für Problembezirke missverstanden. Inzwischen drängen zivilgesellschaftliche Initiativen ins Berliner Abgeordnetenhaus, um sich Gehör zu verschaffen, Diskussionen zu führen, Fachwissen zu übermitteln und die Beteiligung an Entscheidungsprozessen einzufordern: Kotti & Co und sozialmieter.de organisierten im November 2012 die senatsübergreifende Konferenz „Nichts läuft hier richtig“ zum Thema
des sozialen Wohnungsbaus und die Initiative Stadt Neudenken veranstaltet seit Ende 2012 den „Runden Tisch zur Neuausrichtung der Berliner Liegenschaftspolitik“.
Es gibt kein Zurück zum Top-Down-Masterplan. Das Recht aller auf Stadt muss aufgesucht, gefördert und gestaltet werden. Hierfür braucht es Mittel, Orte, Energien, politischen Willen und eine neue Sprachkultur, die die Vielheit der städtischen Akteure anerkennt. Die gemischte, gerechte und vor der kompletten ökonomischen Verwertung geschützte Stadt ist kein bauliches, sondern ein sozial-politisches Projekt.
Bitte wenden. Sonst: Gegen die Wand!
Kunst kommt von Kunst machen
Die Arbeits- und Lebensbedingungen der KünstlerInnen sind mit der stadtpolitischen Entwicklung eng verknüpft. Bis vor wenigen Jahren ermöglichte die besondere historische Situation Berlins, die informellen Freiräume und vergleichsweise billigen Mieten der Stadt eine heterogene, oft selbstorganisierte Kunstpraxis. Dass sich diese Situation dramatisch verändert hat, ist hinlänglich bekannt. Alle politischen Parteien bekennen sich im Grundsatz zur Bedeutung der „freien Szene“ für die Stadt und gestehen die prekären Verhältnisse ein, in denen KulturproduzentInnen leben. Die Senatskanzlei — Kulturelle Angelegenheiten hat zumindest die Arbeit der Projekträume und -initiativen durch die Einführung einer neuen Förderung anerkannt. Jedoch fehlt bisher der Schritt von Absichtserklärungen und Einzelmaßnahmen hin zu einer
grundlegenden kulturpolitischen Neuorientierung im Bereich Bildende Kunst unter Beteiligung der verschiedenen freien wie institutionellen Akteure — die letztjährige, von der Koalition der Freien Szene angestossene Debatte um die City Tax hat dies erneut offensichtlich gemacht.
Die existierende Auffassung, wie Kunst zu fördern sei, steht im scharfem Gegensatz zur Alltagsrealität des Großteils vor allem der bildenden KünstlerInnen. Es gilt ein Bewusstsein darüber herzustellen, was die künstlerischen Produktionsformen, die sich in Berlin über die letzten Jahrzehnte entfaltet haben, auszeichnet und wie diese erhalten
und weiterentwickelt werden können. Der berufsverband bildender künstler berlin kämpft seit langem für die Verbesserung der Produktionsbedingungen der KünstlerInnen auf Grundlage einer Stärkung der „Förderung des Kunstschaffens“. Diese ist ebenso wichtig wie die Förderung der Präsentation von Kunst. Die aktuellen Forderungen des bbk betreffen unter anderem eine neue Künstlerförderung durch Zeitstipendien, Ausstellungshonorare und den Ausbau der Atelierförderung.
Die kulturpolitische Auseinandersetzung muss an die aktuellen Debatten um Stadtentwicklung, Liegenschafts- und Mietenpolitik angebunden und im Hinblick auf die Begriffe und Realitäten von Arbeit, Produktivität und Gemeinwesen geführt werden. Hieraus ergibt sich die Notwendigkeit, die konkreten Arbeitssituationen von KünstlerInnen vor dem Hintergrund der Themen unbezahlte Arbeit, unsichtbare Arbeit, prekäre Arbeit und Existenzsicherung zu analysieren und zu verdeutlichen. Des Weiteren ist eine Diskussion und Klärung unterschiedlicher Kunstbegriffe und damit verbundener Kunstpraxen unumgänglich und in Bezug auf die künstlerische Ausbildung und Forschung, die bestehenden öffentlichen Förderstrukturen sowie die Vereinnahmungsstrategien des Kunstmarkts, der Kreativwirtschaft und des Stadtmarketings zu untersuchen.
DER DIALOGPROZESS
Bereits 2011 forderte Haben und Brauchen einen Dialog mit dem Senat. Mit der Bildung des Jour Fixes Bildende Kunst auf Anraten des Rats für die Künste im November 2013 und der Beauftragung von Haben und Brauchen und bbk, ein Dialogkonzept für 2014/15 zu entwickeln, hat die Senatskanzlei — Kulturelle Angelegenheiten einen solchen Weg
des Dialogs nun zumindest eingeschlagen.
Dieser Weg muss ein langfristig, überparteilich und legislaturübergreifend angelegter Prozess sein, der die kurzfristige Anpassung existierender Fördermodelle in der bildenden Kunst, z.B. im Sinne der Vorschläge und Forderungen des bbk, nicht ausbremst, sondern ergänzt und weiterentwickelt. Angesichts der komplexen Probleme wollen wir keine Löcher stopfen, sondern strukturelle Veränderungen und Lösungen erarbeiten und umsetzen.
Der Dialogprozess ist eine Auseinandersetzung, an der — abgestimmt auf die jeweiligen Themen, Fragestellungen und Handlungsfelder — neben den freien und institutionellen Kunstakteuren und dem Kultursenat auch andere stadt- und kulturpolitisch aktive Gruppen und Plattformen, andere Senatsverwaltungen und Mitglieder des Berliner Abgeordnetenhauses sowie die politischen Stiftungen der im Abgeordnetenhaus vertretenen Parteien teilnehmen müssen. Gerade in der Einbindung der politischen Stiftungen, z.B. als Kooperationspartner einzelner Veranstaltungen und Workshops, sehen wir eine Bedingung für die notwendige Erweiterung des Diskurses und die Unterstützung des von uns geforderten parteiübergreifenden Dialogs. Im Rahmen des Mitte Februar 2014 von Haben und Brauchen und bbk organisierten, internen Klausurwochenendes nahmen die Arbeitsgruppen Arbeit, Stadt/Raum und Kunstbegriff ihre Tätigkeit auf und entwickelten über die letzten Monate — auch unter Beteiligung von Akteuren anderer Initiativen — drei Bausteine für einen Dialogprozess:
Anhang #1:
AG Arbeit: „Persona“
Anhang #2:
AG Stadt/Raum: „Stadttheorie verhandeln — Stadtpolitik und Stadtökonomie verhandeln — Stadtveränderungen verhandeln“
Anhang #3:
AG Kunstbegriff: „Reflektorium“
FORMATE UND ZEITPLAN: DER KARREN
Für 2014/15 schlagen wir einen Prozess der inhaltlichen Vertiefung der Themenfelder und die Vorbereitung eines lösungsorientierten Dialogverfahrens (Charrette) in 2015/16 vor. Diese erste Phase — Arbeitstitel: Study House Intern — setzt sich aus drei unterschiedlichen Format-Ebenen zusammen:
Ebene 1:
Interne Treffen und Wissensbildung innerhalb der Arbeitsgruppen und im Austausch mit hinzugeladenen ExpertInnen: Kartierungen, Recherchen, Lesegruppen, Gespräche, Workshops, etc.
Ebene 2:
Semi-öffentliche Workshops, Runde Tische, Gespräche, Vernetzungstreffen, etc. unter Mitwirkung diverser Akteure und ExpertInnen sowie Politik und Verwaltung
Ebene 3:
Öffentliche Diskussions- und Vortragsveranstaltungen, Präsentationen, Performances, etc.
Als Format der zweiten Phase in 2015/2016 — Arbeitstitel: Study House Extern — schlagen wir das so genannte Charrette-Verfahren [1]. vor, das in Berlin kürzlich im Kontext der geplanten Neugestaltung der Konversionsfläche Güterbahnhof Grunewald angewandt wurde und sich dort bewährt hat. Das Besondere an diesem explizit lösungsorientierten Verfahren ist, dass es aus drei Teilen besteht, die Schritt für Schritt nacheinander durchgeführt werden:
A) Problemanalyse (Mini-Charrette), die eine detaillierte Erarbeitung der Themen, Fragestellungen und Handlungsfelder in Form von vorbereitenden Veranstaltungen, Diskussionen und Runder Tische, etc. umfasst. Die Mini-Charrettes können sich mit den semi-öffentlichen Formaten des Study House Intern überschneiden.
B) Werkstatt (Kern-Charrette), die den Hauptteil des interdisziplinären Dialogs repräsentiert und in einem eng begrenzten, intensiven Zeitraum durchgeführt wird.
C) Aufbereitungsphase (Abschluss-Charrette), die in der Werkstatt erarbeitete Ideen und Ergebnisse in die Umsetzung überführt. Die Teilnahme diverser Akteure des Kunstfeldes und anderer Bereiche der Stadtgesellschaft sowie von VertreterInnen des Senats am Charrette-Verfahren ist eine Bedingung für dessen erfolgreiche Durchführung.
Die Vorteile, die Charrette als Modell für den hier konzipierten Dialogprozess anzuwenden, liegen in den Prinzipien des Verfahrens: Es sieht einen konzentrierten, zeitlich begrenzten Arbeitsprozess vor, es beinhaltet interdisziplinäre und kooperative Teamarbeit, es bezieht lokales und externes Wissen ein, es beteiligt Personen aus unterschiedlichen Feldern und es versucht, Visionen mit der Frage der Realisierbarkeit
zu verknüpfen. Normalerweise wird der Zeitraum für ein Charrette-Verfahren von einer Woche bis vier Monate angegeben.
Angesichts der Vielzahl und Komplexität der hier angesprochenen Fragestellungen und Problemfelder sollte es eine Reihe dieser Verfahren in Bezug auf die Themen Arbeit, Stadt/Raum und Kunstbegriff geben.
SCHLUSSBEMERKUNG
Nach der Evaluierung durch den Jour Fixe Bildende Kunst soll eine öffentliche Präsentation und Diskussion dieses Konzepts und des angestrebten Dialogprozesses erfolgen. Die Veranstaltung, die von Haben und Brauchen und bbk in Absprache mit der Senatskanzlei — Kulturelle Angelegenheiten nach der Sommerpause organisiert wird, setzt die Teilnahme des amtierenden Kulturstaatssekretärs, Tim Renner voraus, um die Ernsthaftigkeit des eingeschlagenen Weges von Seiten des Senats zu unterstreichen und zu bestätigen.
↑ 1. Der Name „Charrette“ ist dem Französischen entlehnt und bedeutet Karren oder Wagen. Im Paris des 19. Jahrhunderts wurden die Arbeiten der Studierenden der Kunstakademie zu Semesterabschluss auf einem Karren zur Akademie gebracht. Wer nicht rechtzeitig fertig war, tätigte noch während der Fahrt die letzten Pinselstriche, zumeist unter reger Anteilnahme der Bevölkerung. Seit den 1990er Jahren wird die Charrette als eine öffentliche Planungsmethode zur Stadt- und Regionalentwicklung mit direkter Beteiligung der BürgerInnen vor allem in den USA angewandt.
Vgl. de.wikipedia.org/wiki/Charrette-Verfahren..
Das gesamte Dokument mit den Anhängen ist hier zu finden.
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