Bild 1: Prof. Dr. Claudia Dalbert, Landesministerin für Umwelt, Landwirtschaft und Energie des Landes Sachsen-Anhalt, benannte in ihrem Impulsvortrag Kriterien für zukunftsfeste Dörfer und Rahmenbedingungen, mit denen die Politik den Strukturerhalt im ländlichen Raum fördern kann.
Bild 2: Nachhaltigkeitsdiagramm des Ökodorf-Netzwerkes GEN mit den Kriterien der vier Dimensionen der Nachhaltigkeit.
Bilder 3, 4, 5: Vorstellung der Dorf-Projekte durch die anwesenden Dorf-Bewohner*innen der fünf Kooperationen (von oben nach unten) Dorf Hülen, Dorf Ziegenhagen, Region Lindstedt.
BIld 6: Lebhafte Diskussion über die Fünf Thesen/Kernfragen für eine nachhaltige Dorf- und Regionalentwicklung während der Abschlusskonferenz in einer Fishbowl-Runde. |
»Leben in zukunftsfähigen Dörfern. Ein Modellprojekt zur Unterstützung nachhaltiger ländlicher Entwicklung!«
Stella Veciana und Christoph Strünke
Dieser Artikel wurde von der Agrarsozialen Gesellschaft e.V. erstveröffentlicht.
In dem vom Umweltbundesamt geförderten Projekt „Leben in zukunftsfähigen Dörfern“ (2017–2018), wurden die vom Ökodorf-Netzwerk GEN (Global Ecovillage Network) weltweit gesammelten Erfahrungen in fünf partnerschaftlichen Kooperationen zwischen jeweils einem Ökodorf und einem gewachsenen Dorf über einen ganzheitlichen Nachhaltigkeitsansatz und einen praxisnahen Methoden-Werkzeugkasten verfügbar gemacht. Das Projekt unterstützt Möglichkeiten einer konkreten nachhaltigkeitsorientierten Trendwende etwa in Form eines Dorfgemeinschaftshauses, eines Bio-Dorfladens, einer Mitfahrbank oder ortsteileigener Pflanzenkläranlagen.
Im Zentrum des Projekts stand die Frage, wie das ganzheitlich orientierte Nachhaltigkeitsverständnis der Ökodörfer, das die ökologischen, ökonomischen, sozialen und kulturellen Dimensionen der Nachhaltigkeit umfasst, in den Kontext ländlicher Gemeinden für eine nachhaltige Dorf- und Regionalentwicklung übertragen werden kann. Zielgruppe des Projekts waren insbesondere ländliche Gemeinden, in welchen Abwanderung und Überalterung, Verlust an Kulturlandschaft und ökologischer Vielfalt sowie soziale und kulturelle Stagnation zu einer schleichenden Not der Bevölkerung sowie ihrer natürlichen Lebensgrundlagen führen.
Nach einem öffentlich ausgeschriebenen Bewerbungsverfahren des Projektträgers GEN Deutschland e.V. haben sich dieser komplexen und herausfordernden Aufgabe folgende Dorf-Kooperationen gestellt:
- in Baden-Württemberg: Schloss Tempelhof und Hülen
- in Niedersachsen: Lebensgarten Steyerberg und die Dörfer Flegessen, Klein Süntel und Hasperde
- in Südniedersachsen/Nordhessen: gASTWERKe Escherode und Ziegenhagen
- in Sachsen-Anhalt: Ökodorf Sieben Linden und die Region Lindstedt
- in Thüringen: Schloss Tonndorf/LebensGut Cobstädt und Seebergen
In der ersten Projektphase wurde in interaktiv gestalteten Workshops eine Bestandsaufnahme der zehn teilnehmenden Dörfer vorgenommen. Diese „Nachhaltigkeitsevaluation“ ging der Kernfrage nach: Wie nachhaltig sind wir eigentlich auf der ökologischen, ökonomischen, sozialen und kulturellen Ebene in unserem Dorf aufgestellt? Ziel war es, in den Dörfern ein Bewusstsein für die wechselseitige Abhängigkeit der vier Dimensionen voneinander zu schaffen und dadurch die Motivation bei den Dorfbewohner*innen zu wecken, einen ganzheitlichen nachhaltigen Transformationsansatz zu verfolgen. Bei diesem Pilotversuch der Nachhaltigkeitsevaluationging es außerdem darum, ein neues Werkzeug in der Form einer partizipativen Befragung zu erschaffen, das die Wirkung von nachhaltigen Lebensstilen in Dörfern im deutschsprachigen Raum untersucht. Dabei wurden insbesondere die Ziele für eine nachhaltige Entwicklung (Sustainable Development Goals – SDGs) und die Indikatoren der Deutschen Nachhaltigkeitsstrategie mit berücksichtigt.
Die Struktur der „Nachhaltigkeitsevaluation“ beruht auf dem Nachhaltigkeitsdiagramm von GEN: den vier Dimensionen der Nachhaltigkeit, die jeweils in sechs Nachhaltigkeitskriterien unterteilt sind. Zu jedem Nachhaltigkeitskriterium, beispielsweise „lokales Wirtschaften“ oder „nachhaltige Mobilität“, wurden die jeweiligen Herausforderungen, Stärken und Ideen im Dorf ermittelt, um den dringendsten Handlungsbedarf im ökologischen, ökonomischen, sozialen und kulturellen Bereich festzustellen und aus diesem Gesamtbild einfallsreiche Projektideen für eine nachhaltige Dorfentwicklung zu gestalten.
In der zweiten Projektphase wurden unter Einbeziehung lokaler Akteur*innen und regionaler Partner*innen konkrete Umsetzungsideen für Projekte in Form von Dorf-Nachhaltigkeitsplänen entwickelt. Auch die Entwicklung eines Dorf-Nachhaltigkeitsplans in der Form eines „partizipativen kontinuierlichen Dorf-Aktionsplans“ ist ein neuartiges Werkzeug und dient dem Aufbau langfristiger, befruchtender, persönlicher und institutioneller Kooperationsbeziehungen. Die Struktur des partizipativen Dorf-Nachhaltigkeitsplans führt ins Thema „Zukunftsfähiges Dorf und nachhaltige Entwicklung“ aus der Ökodorf-Netzwerk Perspektive und in die Ziele für eine nachhaltige Entwicklung (SDGs) ein. Er beruht auf den Ergebnissen der Nachhaltigkeitsevaluation und selbst entwickelten (Teil-)Leitzielen. Der Kern des Dorf-Nachhaltigkeitsplans sind die Projektideen und Modellprojekte in den vier Dimensionen der Nachhaltigkeit nach folgenden Gesichtspunkten: a) Zielbestimmung, Nachhaltigkeitswirkung, Bezug aller Dimensionen zueinander, Evaluationskriterien; b) Maßnahmen und Aktivitäten; c) Akteursanalyse; d) Zeitplan/Ressourcen & Finanzen; e) Prozesse der Projektentwicklung und f) Inspirationsquellen.
Ergebnisse der Nachhaltigkeitsevaluationen
In ihrer Zusammenstellung geben die Evaluationen einen Einblick in die verschiedenen Wege der Umsetzung von zukunftsfähigen Lebensstilen in Dörfern und Ökodörfern, auf deren Grundlage die beteiligten Akteure, Entscheidungsträger*innen aus Politik und Forschung sowie weitere Interessierte zu nachhaltigen Lebenswegen weiter lernen, reflektieren, forschen und gestalten können.
Als größter Handlungsbedarf der gewachsenen Dörfer ergab sich im Bereich Ökologie die „nachhaltige Mobilität“, bei Ökonomie „lokales Wirtschaften“, im Sozialen „transparente und inklusive Entscheidungsprozesse“ und bei Kultur „Gemeinsame Ausrichtung“. Diese Ergebnisse, wie beispielsweise der Wunsch nach einer gemeinsamen Ausrichtung, spiegelten sich nicht nur in den ausgefüllten Fragebögen, sondern auch in wiederholten Aussagen von Bürger*innen: „Durch das Projekt haben wir endlich wieder einen Raum gefunden, um gemeinsam über die Zukunft unseres Dorfes, das uns allen so am Herzen liegt, ins Gespräch zu kommen.“
Eine weitere, entscheidende Erkenntnis der Kooperationen war, dass es für eine nachhaltige Dorfentwicklung unabdingbar ist, eine dauerhafte Grundlage gemeinschaftlichen Handelns zu schaffen. Hintergrund ist die Auswirkung der Eingemeindungen, durch die Dörfer zu Ortsteilen „degradiert“ werden. Ortsteilbewohner*innen können sich immer weniger für ihr Dorf einsetzen, da die Entscheidungen in der Gemeindeverwaltung teilweise viele Kilometer entfernt getroffen werden. Ein Beispiel dafür ist Gardelegen, flächenmäßig die drittgrößte Stadtgemeinde Deutschlands mit ca. 40 eingemeindeten Dörfern, in der sich u. a. auch die Ortschaft Lindstedt und ihr Kooperationspartner das Ökodorf Sieben Linden befinden. Es fehlt zum einen an Räumen wie Dorfgemeinschaftshäusern, wo Menschen wieder zusammenkommen können, aber auch am Glauben an die eigene Selbstwirksamkeit, dass es möglich ist, gemeinsam die Zukunft des Dorfes in die Hand zu nehmen. In diesem Sinne erhält die fünfte Nachhaltigkeitsdimension „das integrierte partizipative Design“ eine besondere Bedeutung, denn es fordert u. a., alle Beteiligten in zukunftsfähige Gestaltungsprozesse einzubinden.
Die Ergebnisse der Nachhaltigkeitspläne
In den Nachhaltigkeitsplänen der fünf gewachsenen Dörfer wurden insgesamt 41 Projektideen und fünf Modellprojekte beschrieben und die Wirkung jedes Projektes auf die vier Dimensionen der Nachhaltigkeit ausgewertet. Dadurch wurden die Projekte mit der stärksten ganzheitlichen Hebelwirkung erkennbar:
- In Lindstedt wurden u. a. mit Jugendlichen Sitzbänke kreativ neu gestaltet bzw. repariert und als Modellprojekt ein „öffentliches Wohnzimmer“ für informelle Treffen oder kulturelle Begegnungen geplant.
- In Ziegenhagen hat sich die „Arbeitsgemeinschaft Nachhaltiges Ziegenhagen“ gegründet, deren 20 Mitwirkende vielfältige Projektideen entwickelt haben, die teilweise schon umgesetzt wurden. Diese reichen von dem Bau einer Mitfahrbank über die Einführung einer Dorfzeitung bis zum Bestreben, ein stillgelegtes Hallenbad wieder zu eröffnen.
- In Hülen liegt der Schwerpunkt auf der Umnutzung eines Gebäudes zu einem Dorfgemeinschaftshaus. Dieses Projekt soll im Rahmen eines zukünftigen LEADER-Kooperationsprojektes umgesetzt werden. Weitere Ideen sind u. a. das Mitfahr-Bänkle, ein Repair-Café und die Erweiterung des Produktsortiments des „Hülener Lädele“ um lokale Produkte, v. a. regionales Obst und Gemüse.
- In Seebergen lag der Fokus auf der Wiederbelebung der ehemals sehr reichhaltigen Streuobstwiesen. Plan für die Zukunft ist, die Gemeindeschenke vor Ort wieder mit mehr Leben zu füllen, auch über das zukünftige LEADER-Kooperationsprojekt.
- In Flegessen, Hasperde und Klein Süntel gibt es bereits seit 2012 ein sehr aktives, partizipatives, basisdemokratisch geprägtes Miteinander, in dem diverse Projektideen entwickelt und realisiert wurden, darunter eine eigene Zeitung, ein Dorfkino, ein Regio-/Bio-Laden, ein Leerstandsmanagement, eine gemeinwohlorientierte Gesellschaft für den Erwerb und die Umwandlung alter Gebäude in Gemeinschaftswohnraum, ein Repair-Café, mehrere Mitfahrangebote etc. Ziel des Nachhaltigkeitsplans war es hier, das breit gefächerte Wirken ganzheitlich zusammenzufassen.
Insgesamt fanden in den Dörfern im Rahmen des Projekts „Leben in zukunftsfähigen Dörfern“ 77 lokale Veranstaltungen mit ca. 1 600 Teilnehmer*innen sowie sechs bundesweite Veranstaltungen mit ca. 150 Teilnehmer*innen statt. Darüber hinaus wurden eine Master- und eine Hausarbeit sowie zwei Bachelorarbeiten zum Projekt geschrieben.
Auswertung und Erkenntnisse
In einem Expert*innen-Workshop wurden aus den im Projekt gemachten Erfahrungen fünf Thesen bzw. Kernfragen für eine nachhaltige Dorf- und Regionalentwicklung erarbeitet:
- Bewusstsein schärfen für eine nachhaltige Dorfentwicklung: Welche Argumente und Botschaften haben Dorfbewohner*innen für eine nachhaltige Dorfentwicklung? Die Balance zwischen „ganzheitlichem Überblick“ und „einfach Anpacken wollen“ finden.
- Dorfbewohner*innen stärken und mitnehmen: Wie lassen sich nachhaltige (Dorf-)Innovationen in Dörfern in einen größeren Maßstab transferieren? Herausforderungen der Eigenverantwortung und Verbindlichkeit von Engagierten.
- Nachhaltiges Dorfleben im Alltag: Was braucht es, um die Attraktivität des Dorflebens zu fördern und mehr nachhaltige Räume zu gestalten? Neue Perspektiven für Jung und Alt schaffen!
- Die Zukunft gemeinschaftlichen Handelns im Dorf: Was haben bisherige Förderprogramme für eine nachhaltige Dorf- und Regionalentwicklung unterstützt und was fehlt noch? Was schaffen Dörfer aus eigener Kraft?
- Netzwerke bilden und nutzen: Für eine größere gesellschaftspolitische Wirksamkeit braucht es den Schulterschluss der vielen nachhaltigkeitsorientierten Initiativen: Mögliche Partnerschaften und Ressourcen.
Im Rahmen einer Abschlusskonferenz im September 2018 stellten die Projektträger sowie Dorfbewohner*innen aus den fünf Kooperationsdörfern ihre im Laufe des Projektes gesammelten Erkenntnisse und die in den Dörfern angestoßenen Vorhaben einem größeren Kreis von Teilnehmer*innen aus Politik, Wissenschaft und Zivilgesellschaft vor.
Darüber hinaus wurden die oben genannten fünf Thesen/Kernfragen in Workshops diskutiert. Hervorgehoben wurde hierbei u. a., dass es in vielen Dörfern ratsam ist, zuerst Projekte anzugehen, die auf das Wohlwollen der ganzen Dorfbevölkerung stoßen, wie z. B. eine „Mitfahrbank“, und kostspieligere Projekte wie die Gestaltung eines Dorfgemeinschaftshauses in einem zweiten Schritt umzusetzen. Einen Raum zu schaffen, in dem die Dorfbewohner*innen sich über ihre gemeinsame Zukunft austauschen können, wurde als essenziell betrachtet, um gemeinsame, nachhaltigkeitsorientierte Projekte wie z. B. einen Bio-Dorfladen oder eine solidarische Landwirtschaft gut planen und umsetzen zu können.
Dass die soziale Infrastruktur eines Dorfes genauso wichtig ist wie die technische oder wirtschaftliche, kam auch im Rahmen der Podiumsdiskussion zur Sprache. Simone Strähle, Referentin im Leitungsbereich des Thüringer Ministeriums für Infrastruktur und Landwirtschaft, wies in diesem Zusammenhangdarauf hin, dass ihr Ministerium „Ortsgespräche – Leben im ländlichen Raum“ initiiert habe. Auf der Grundlage der daraus gewonnenen Erkenntnisse plane das Ministerium, für die Zukunft Förderprogramme für soziale Infrastruktur zu entwickeln.
Die Konferenz hat auch die Relevanz einer bundesweiten Netzwerkbildung durch einen Schulterschluss der Initiativen für eine zukunftsfähige Dorfentwicklung betont. In diesem Zusammenhang plant das Projektleitungsteam (S. Veciana, T. Meier, C. Strünke) von „Leben in zukunftsfähigen Dörfern“ weitere Veranstaltungen, wie z. B. ein Workshop beim bundesweiten Netzwerk21Kongress am 10. und 11. Oktober 2018 in Dessau.
Alle Ergebnisse sowie ein Film über das Projekt „Leben in zukunftsfähigen Dörfern“ und die Arbeit in den Dörfern sind auf der Website des Projektes zum Download verfügbar: http://gen-deutschland.de/wp_gen/projekte/uba-projekt/. Wir stehen Ihnen gerne für weitere Fragen zur Verfügung unter: uba@gen-deutschland.de .
Literatur
Veciana, S. / Strünke, C. (2018): "Leben in zukunftsfähigen Dörfern. Ein Modellprojekt zur Unterstützung nachhaltiger ländlicher Entwicklung”. In: Neue Ansätze für die Dorf- und Regionalentwicklung, Agrarsoziale Gesellschaft e.V. ASG, Göttingen, 03/2018, S. 26-29. |