Ausstellung Cumuli, Berlin. Foto: Stella Veciana. Ausstellung Cumuli, Berlin, 27. April - 8. Juni 2013. Foto: Stella Veciana.
Herbert Distel, Schubladenmuseum. Ausstellung Cumuli und Film-Präsentation am 8. Juni 2013, Berlin. Fotos: Stella Veciana.
Moira Zoitl, Life According to Bilderberg. Ausstellung Cumuli, Berlin. Fotos: Stella Veciana.
Katharina Karrenberg, VORTEX_KOMPLEX, Trinity. Ausstellung Cumuli, Berlin. Fotos: Katharina Karrenberg.
Katharina Karrenberg, VORTEX_KOMPLEX, Hommage à Lady Galton. Ausstellung Cumuli, Berlin. Fotos: Katharina Karrenberg.
MACHT GESCHENKE: DAS KAPITAL, © Christin Lahr, 2009 - ca. 2052.
MACHT GESCHENKE: DAS KAPITAL, Überweisung Nr. 01116, 19.06.2012, © Christin Lahr, 2012.
MACHT GESCHENKE: DAS KAPITAL, REALFILM, Überweisungen seit 31.05.2009, © Christin Lahr.
Svenja Hehner und Stella Veciana. Die zwei Seiten des Geldes, Kunstgeldscheinautomat. Deutsche Bank, Barcelona. Foto: Stella Veciana.
Annette Rose, Enzyklopädie der Handhabungen. Ausstellung Cumuli, Berlin. Fotos: Stella Veciana.
Phill Niblock,The Movements of People Working. Ausstellung Cumuli, Berlin. Foto: Stella Veciana.
Katharina Karrenberg zeigt den originell konzipierten Cumuli Ausstellungskatalog. Foto: Stella Veciana.
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Wie sammeln Künstler/innen? Cumuli – Ausstellung / Archiv / Lager.
Stella Veciana im Austausch mit Herbert Distel, Katharina Karrenberg, Christin Lahr und Moira Zoitl [1]
Wie entsteht die Sammlung aus der Hand eines Künstlers oder Künstlerin[2] im Unterschied zu einer Sammlung aus der Obhut eines Museumsleiters oder aus der Passion eines Kunstliebhabers? Das Projekt Cumuli. Zum Sammeln der Dinge der Künstlergruppe Camelot[3] mit Susanne Prinz / L40[4] ist ein hervorragendes Beispiel, um sich dieser Frage anzunähern. »Cumuli ist aus der künstlerischen Arbeit selbst entstanden, aus den angesammelten Objekten im Atelier«, erklärt die Mitinitiatorin, Künstlerin und Kuratorin des Projekts Moira Zoitl. Im Gespräch mit anderen Künstlern[5] und durch gegenseitige Atelierbesuche hätte sich dann langsam die Idee verdichtet: zum Titel Cumuli, die Bezeichnung einer Wolkenform, und zum Thema die »verschiedenen Möglichkeiten der Verwendung von zuvor akkumulierten Dingen durch Künstler aufzuzeigen«{6] .
Dabei hätte auch eine Rolle gespielt diese Künstlersammlungen im Gegensatz zu Präsentationsformen des Freien Marktes zu konzipieren, wie beispielsweise beim Berlin Gallery Weekend üblich. Das Cumuli Konzept lautet: Lager/Archiv/Ausstellung. Sämtliche Ausstellungswände waren mit Holzlatten ausgekleidet wie sie für Kellertrennwände typisch sind und suggerierten die Rekontextualisierung der Objekte im Verlauf der Zeit. Intendiert sei, dass die Objekte »ihren Ort wechseln« können, vom Rampenlicht der Ausstellung zu ihrer Verwahrung im Lager.
Drei wesentliche Aspekte des künstlerischen Sammelns hätten sich bei der intensiven Recherche nach Künstlersammlungen heraus kristallisiert: der Künstler, erstens, der Objekte in andere »soziale und rituelle Praktiken, erkenntnis-theoretische Zusammenhänge oder Wertesysteme« überträgt; der, zweitens, persönliche Erinnerungsstücke, Ungewöhnliches oder Unbeachtetes zusammenträgt oder der, drittens, durch Tausch / Erwerb die Arbeit anderer Künstler sammelt. Ein besonders bemerkenswerter Sammlungsbereich, der sich aber nach Zoitl eher beiläufig ergab, war die Sammlung von Gesten, Bewegungen bzw. Handlungs-abläufen. Auf jeden dieser Aspekte wird im Folgenden anhand von ein bis zwei Beispielen eingegangen.
Zu den ausgestellten Künstlern in Cumuli, die andere Künstler gesammelt haben, gehörte Herbert Distel. Mit seinem Schubladenmuseum[7] präsentierte er die Werke von Künstlern der Sechziger und Siebziger Jahre. Zwischen 1970 und 1977 folgten 500 Künstler seinem Brief mit der Bitte ein Original für eine Schubladengröße von 4,3 x 5,7 x 4,8 cm zu gestalten. Ein reger Briefwechsel und weltweites Künstlernetzwerk entstand. Es beteiligen sich Künstler wie Beuys mit einem Zehennagel, Gerz mit einem Portrait und Statement »I am so far away from you in space and time« oder John Cage, mit einer Notiz, die ihm viel Glück für das Gelingen des Projektes wünschte. Selbst dem bereits verstorbenen Marcel Duchamp ist ein Schubladenraum gewidmet. Im Namen ihres Mannes willigte seine Witwe auf den Vorschlag Distels ein, aus der Überzeugung heraus Duchamp hätte bestimmt bei diesem Projekt mit einem leeren Raum teilgenommen. Auswahlkriterium für Distel waren »Künstler aus der Gegenwart, die einen Beitrag zur Kunst ihrer Zeit geleistet hätten«. Denn sein Ziel sei es gewesen, ein Zeitbild entstehen zu lassen. Mit dieser Vorstellung, übernimmt Distel nicht nur die Aufgaben der Einschätzung der historischen Relevanz bzw. die konservatorische Obhut von Kunstobjekten ähnlich die eines Museumskustos, sondern auch die des persönlichen Beziehungsaufbaus eines Kunstliebhabers.
Dabei erfüllt seine Kunstsammlung gerade durch seine physisch geringe Größe eine Doppelfunktion, die Funktion des Archivs und zugleich die des Archivkataloges: Das Schubladenmuseum beinhaltet die Kunstobjekte selbst und zugleich die Referenz des Ordnungssystems der archivierten Kunstobjekte. In Cumuli war das Schubladenmuseum allerdings nicht vor Ort ausgestellt, dafür aber im Internet virtuell einsehbar. In diesem digitalen Archiv sind die Kunstobjekte und weitere Hintergrundinformationen durch Links jederzeit abrufbar. Allerdings, ermöglicht es nicht die Teilnahme der Internetbesucher, zum Beispiel durch die Eingabe von eigenen Inhalten oder Kommentaren, was auch von Distel nicht intendiert ist.
Dies war worauf beispielsweise The File Room von Antonio Muntadas abzielte, insbesondere um das Thema der Zensur zur Debatte zu stellen. Er würde diese interaktive Technologie verwenden, »um neue Standpunkte oder fehlende Informationen hinzuzufügen, um die Vorstellungen von Autorschaft herauszufordern, und um über plurale Stimmen und Meinungen direkt und wo immer möglich zu reflektieren«.[8] Über diese komplexe soziale Dimension des digitalen Archivs wurde in den letzten Jahren sowohl in der Kunst intensiv experimentiert als auch in den Geistes- und Sozialwissenschaften viel geschrieben, in diesem Kontext besonders interessant sind die Analysen von Elena Esposito[9] . Es könnte spannend sein, würde bei einer neuen Edition von Cumuli dieser Aspekt der Künstlersammlung aufgegriffen.
Zu den Ausstellungsbeiträgen von Cumuli, die Bezug auf persönliche Erinnerungen nehmen und sie zugleich in einen historisch politischen Kontext setzen, gehört die Arbeit Life According to Bilderberg von Zoitl. Die intimen Fotos aus ihren Familienalben werden selbstgezeichnete Handskizzen der Hotels gegenüber gestellt, die seit 1954 die Bilderberg-Konferenzen beherbergen. In den inoffiziellen und vertraulichen Bilderberg-Konferenzen trafen sich einflussreiche Persönlichkeiten aus Wirtschaft, Militär, Politik, Medien, Hochschulen und Adel, um insbesondere über Fragen der Weltwirtschaft und der internationalen Beziehungen zu sprechen. Die persönlichen Kontakte sollten Einfluss, im Sinne der von Bilderberg gesetzten Ziele, auf nationale wie internationale Kreise nehmen.
Was Zoitl in dieser Arbeit beschäftigt hätte, sei die Frage was privat und was öffentlich ist. Was darf auf der Makroebene privat und was muss öffentlich sein? Was soll auf der Mikroebene privat bleiben und was darf öffentlich sein? Inwiefern wird das Beziehungsgeflecht der Macht privat gehalten oder öffentlich gemacht? Mit der Setzung dieser Fragen in der Öffentlichkeit, verbindet Zoitl die Mittel einer kritischen politischen Recherche mit künstlerischen Mitteln wie der Zeichnung oder die offene Narrative. Somit übernimmt sie andere gesellschaftliche Funktionen als die eines klassischen Museumsleiters.
Zu dem Bereich von Cumuli, der Sammlungen unter anderen mit neuen Möglichkeiten der Erkenntnis verband, gehörte der Archiv-Ordner VORTEX_KOMPLEX der Künstlerin und Mit-Kuratorin Katharina Karrenberg. In diesem Ordner erweiterte sie eine bereits vorhandene Arbeit, R.A.U.S.CH._PASSAGE, um die Kontexte bestimmter Arbeitsperioden und die Veränderungen der Wahrnehmung, die dadurch eingeleitet wurden zu untersuchen. Dabei verschränkte sie zwei Archive miteinander: das Archiv der Zeichnungen und das zeitgleiche Archiv der Fotografien, die die historischen, sozialpolitischen und ästhetischen Kontexte der roten Zeichnungen zeigen. Sie entwickelte dazu ein fotografisches Verfahren zum »Sichtbarmachen flüchtiger Erscheinungen in Spiegelungen und reflektierenden Oberflächen«: die Infra-Med-Reflectography[10] . Über hundert Fotosequenzen entstanden auf diese Weise und machen Interaktionen, Dauerkonflikte und Wahrnehmungsverschiebungen zwischen den beiden Genres Foto und Zeichnung wie auch zwischen unterschiedlichen gesellschaftspolitischen Recherchefeldern sichtbar.
Die reflektierenden Oberflächen der Fotografien und der Zeichnungen spiegeln ihre historischen und ästhetischen Bezüge: ein Beispiel ist B11_0063 mit dem Titel Trinity. Bei Trinity griff die Künstlerin auf das Bild der ersten Atombombenexplosion aus ihrem Fotoarchiv zurück. Dieses Bild wurde mit einer der roten Zeichnungen reflektiert und zu einer 13-teiligen Bildfolge weiterentwickelt. Bei B13_0160, mit dem Titel Hommage à Lady Galton, nahm sie auf die Composit-Fotografie Francis Galtons Bezug. Diese Technik sollte für Ermittlungen der Polizei Kriminelle typisieren. Dazu Karrenberg: »Ich entnehme den 110 Untersuchungsreihen 398 Stichproben mit typischen Merkmalen von Blick-Gegenblick-Verschiebungen, die das Galton’sche Verfahren der rassistischen Blickverengung in ein performatives, sich veränderndes und veränderbares Kompositverfahren führt«. Hommage à Lady Galton wird mit der verso-recto-Zeichnung Nr. B13_0160 konfrontiert. Das Blatt erscheint als symmetrische Musterzeichnung, die wiederum an Rorschach-Tests, ein Verfahren für die Diagnose von psychischen Leiden, erinnert, obwohl es in Wirklichkeit lediglich Vorder- und Rückseite einer Zeichnung zeigt. Karrenberg spielt hier mit der Auseinandersetzung um Realität und Fiktion und einem ironischen Blick auf die Fallen der Mustererkennung.
In VORTEX_KOMPLEX wird ein Bild zu einer Bildfolge. Bilder erzeugen weitere Bilder. Verwiesen wird auf »Bild und Bildstörung, etwas, das sich zeigt und das, was sich jedem Zeigen verweigert«[11] . Das gibt dem Betrachter den Freiraum für neue Assoziationen und Erkenntnisse. Karrenberg erforscht weiterhin die Kontexte der Generierung des fotografischen Bildes und seine historischen Diskurse. Auch dadurch macht sie für den Betrachter ihre Sammlung assoziativ neu erfahrbar. Aus den Bildfolgen entsteht eine Sammlung der Sammlung. Ein Vorgehen, das Clémentine Deliss in Zusammenarbeit mit Gegenwartskünstlern im Weltkulturen Museum Frankfurt/Main[12] , auch verfolgt hat. Jedoch ist bei Karrenberg der Ausgangspunkt eine eigene Sammlung und nicht die Sammlungsobjekte eines Museums. Insofern spricht die Künstlerin auch von einer »doppelten Autorschaft«. Sie experimentiert mit einem erweiterten Subjektbegriff, der sie beim Zitieren eigener Sammlungsgebiete befähigt, ganz unterschiedliche ästhetisch-politische Anschlußfelder zu generieren und - ähnlich dem Konzept von Deliss - den Verlust von Kontexten zu thematisieren. Dadurch kann sie zugleich den Entwicklungs- und Veränderungsprozess des Sammelns transparent machen.
Sowie Karrenberg, untersucht auch Christin Lahr das System des Sammelns selbst, wenn auch mit völlig anderen Mitteln und Intentionen. In Cumuli war sie mit ihrer Aktion MACHT GESCHENKE: DAS KAPITAL vertreten. Seit 2009 überweist die Künstlerin dem Bundesministerium der Finanzen per Online-Banking jeden Tag einen Cent und trägt damit »in homöopathischen Dosen zum Schuldenabbau« bei. Mit jedem Cent schenkt Lahr der Bundesrepublik Deutschland auch kulturelles Kapital[13] indem sie den Verwendungszweck mit jeweils 108 Zeichen aus dem ersten Band des Kapitals von Karl Marx ausfüllt. Somit wird zugleich monetäres als auch kulturelles Kapital auf dem zentralen Konto des Staates bei der Bundesbank gespeichert. Damit stellt Lahr nicht nur die herrschende politische Ökonomie mit ihrem sinnentleerten Bürokratismus sowie die dem Finanzsystem zugrunde liegenden Werte in Frage, sondern unterwandert auch die Archive der Finanzverwaltung selbst. Somit schreibt sich eine immaterielle künstlerische Arbeit unwiderruflich in sämtliche beteiligte Archive der Finanzverwaltung ein und das Bundesfinanzministerium wird zum Betreuer und Verwalter einer Konzeptkunst-Sammlung – ob es will oder nicht.
Lahr nutzt für ihre kritische Aktionskunst aber auch physische Träger, die Ausdrucke der täglichen Online-Überweisungen. Diese verschenkt sie dann zum Beispiel an Bundestagsabgeordnete wie den finanzpolitischen Sprecher der Grünen Gerhard Schick oder Rainer Brüderle (damals Bundesminister für Wirtschaft und Technologie), die das Geschenk annehmen oder Philipp Rösler (damals Bundesminister für Gesundheit), der es ablehnt. Mit dieser Handlung wird die nicht einsehbare digitale Sammlung der Bundesbank als physisches Geschenk an die Mitglieder der Gesellschaft übereignet und somit (nicht nur) bundesweit verstreut. Dies könnte auch als eine künstlerische Praxis gedeutet werden, die das Sammlungskonzept als Zusammenführung von Sammlungsobjekten an einem Ort wie ein Museum oder Lager hinterfragt. In einer von der Künstlerin geführten Namensliste kommen die Geschenkempfänger oder »Anteilseigner«, wie sie diese auch nennt, wieder zusammen und bilden eine »Kapitalgesellschaft«, so die Künstlerin.
Obwohl ich an der Ausstellung nicht teilgenommen habe, möchte ich in der ausgelösten Diskussion eine eigene Arbeit mit in die Debatte werfen. Ähnlich wie Lahr verfolgt diese Arbeit die Idee, sich in das Finanzsystem selbst einzuschleusen. 1994, im Zusammenhang mit der Diskussion um die Einführung des Euros[14] , entwarf ich mit der Künstlerin Svenja Hehner das Projekt des Kunst-Geldscheinautomatens[15] . Bei diesem Geldscheinautomat konnten auf dessen Bildschirm Kunstgeldscheine ausgewählt und mit einer handelsüblichen Kredit- oder Scheckkarte abgehoben werden. Der Nutzer des Kunst-Geldscheinautomats erhielt auch einen entsprechenden Transaktionsbelegschein.
Das Einschleusen der Kunst in das Finanzsystem geschah nicht wie bei Lahr, indem eine Lücke im kapitalistischen System genutzt wurde, sondern in Zusammenarbeit mit Programmierern der Deutschen Bank selbst. Das Wertesystem des Geldes wurde mit deren Einwilligung dem ideellen Wertesystem des Kunstgeldscheines gegenüberstellt. Der Geldfluss wurde zu einem Kunstfluss transferiert. Dabei kamen die symbolischen Machtverhältnisse zwischen Kunst- und Finanzsystem zur Sprache, die tatsächlichen blieben jedoch unberührt.
Bei MACHT GESCHENKE: DAS KAPITAL dagegen entwickelt Lahr mit ihren Ein-Cent-Geschenken ein parasitäres Machtverhältnis. Mit ihren Überweisungen findet sie eine Lücke im kapitalistischen System und nutzt dieses für ihre künstlerischen Zwecke: »Konten sind streng kontrolliert, was den Geldabfluss angeht, der Zufluss von Geld ist jederzeit ungehindert möglich. Geld öffnet bekanntlich alle Türen, Konten sind stets empfangsbereit. Gegen den Zufluss von Geld gibt es derzeit weder Filtersysteme noch Firewalls. Geld findet immer einen Weg ohne Widerstand. Die Überweisungen zu unterbinden würde einen Angriff des Systems auf sich selbst bedeuten«, erklärt Lahr.
Sollte jedoch irgendwann MACHT GESCHENKE als Aufruf für Nachahmer verstanden werden, bestände zumindest zeitweise die Möglichkeit, die Verwaltung des Bundesfinanzministeriums zu entmachten. Das würde aber Lahrs Intention zuwiderlaufen, denn ihr ginge es nicht darum Nachahmer zu finden, sondern eigenständiges Denken und Handeln in Gang zu setzen und zur Selbstermächtigung zu ermutigen. Durch persönliche, individuelle Gespräche mit den Besuchern würde sie konstruktive Impulse und veränderte Bewusstseinsprozesse in Gang setzen wollen, die sich bei Weitergabe exponentiell vervielfältigen könnten.
Zu dem erwähnten besonders spannenden Bereich von Cumuli, dem die Sammlung von Bewegungen und Handlungsabläufen gewidmet wurde, gehörten unter anderen[16] Anette Rose und Phill Niblock. In einem kontinuierlichen Werkprozess von 2006 bis 2010, erforschte Anette Rose mit ihrer Enzyklopädie der Handhabungen[17] die Körpersprache des Menschen und ihre Interaktion mit Maschinen. Die gefilmten »Handhabungen« zeigten zum einen die Gesichtsmimik von Industriearbeitern und zum anderen ihre Handgriffe an der Maschine. Hinzu kamen auch Aufnahmen von »Interviews und Fertigungsprozessen sowie aktuelle und historische Aufzeichnungen aus Wissenschaft und Industrie«. In der Kunstinstallation gaben Videomonitore, Setfotos und Recherche-Objekte einen vielschichtigen Einblick in Roses künstlerische Forschungsarbeit. Auf einem Wandregal waren außerdem die bereits erschienenen Bänder der Enzyklopädie der Handhabungen einzusehen.
Die Künstlerin beschreibt ihr Anliegen als das in Beziehung setzen von Hand und Auge, körperliches und impliziertes Wissen, Maschinen- und Handarbeit. Das wechselseitige Abhängigkeitsverhältnis Mensch-Maschine visualisiert sich in der Konzentration des Blickes auf eine maschinell abgestimmte Handbewegung. Die industriell vorprogrammierten Bewegungen der Maschinen imitieren de facto die menschliche Geschicklichkeit bei der Herstellung von Dingen. Andererseits, müssen sich Arbeiter an die industriellen Bewegungsabläufe der Maschinen anpassen.
Roses Bewegungsstudien gehörten zu dem Bereich der ausgestellten Arbeiten von Cumuli, die soziale Praktiken in andere Zusammenhänge setzten. Im Katalog verdeutlichte sie ihre Intention: »gegenwärtige und zukünftige Arbeits- und Produktionsverhältnisse sichtbar zu machen, die gesellschaftlichen Praktiken bestimmen«. Bei Rose entwickelte sich dieses Archiv aus einer künstlerisch dokumentarischen Forschungs- und Recherchearbeit vor Ort. Die Enzyklopädie industrieller Arbeitsweisen bezieht wissenschaftliche Diskurse aus der Anthropologie und Arbeitsphysiologie ein. Zugleich überträgt Rose die künstlerische Form einer minimalistisch und seriellen Visualisierung in die Gestaltung einer Sammlung. Diese erforscht durch ihre minimalistische Methode die neue Ausdrucksform einer »visuellen Evidenz«[18] als Wahrnehmungsraum für soziale Kontexte und Prozesse.
Der Minimalismus prägt auch das in Cumuli ausgestellte Video The Movements of People Working[19] (1974) von Phill Niblock. Die Arbeit zeigt Aufnahmen von Menschen bei der Arbeit in Ländern wie Peru, Mexico, China und Japan: Bauern, die Reisfelder pflanzen und Felder beackern; Fischer, die ihre Netze ausbessern und Fische ausnehmen aber auch Techniker, die an einem Stromkabel hängen und hantieren. Ähnlich wie bei Rose spielt die Wiederholung der Bewegungen eine Rolle, jedoch werden die Bewegungsstudien nicht in Beziehung zu den Gesichtern gestellt. Bei Niblocks Aufnahmen von Arbeitsabläufen liegt der Fokus nicht auf dem Verhältnis Mensch-Maschine noch auf dem konzentrierten Blick der maschinell abgestimmten Handbewegung wie bei Rose.
Bei seinen Aufnahmen scheinen eher Aspekte der Arbeit wie die physische Anstrengung oder die handwerkliche Geschicklichkeit im Vordergrund zu stehen. Außerdem verbindet der Künstler die Bildaufnahmen mit einer Komposition von langanhaltenden Tönen, die bis zu dreißig Obertöne in ein Toncluster in sich verdichten können. Es ginge ihm darum den Betrachter eine Wahrnehmung der Zeit zu vermitteln, die die konventionellen Attribute der Medien durchbricht. Dies erreicht er indem er mit einer Komposition ohne Rhythmus, Melodie noch Progressions-struktur arbeitet. Auch die einzelnen Aufnahmen der Bewegungsabläufe sind nicht durch eine Narrative miteinander verbunden, sondern reihen sich in einem Film nicht nur hintereinander sondern auch nebeneinander. In einigen Konzerten laufen bis zu drei Videos parallel. Niblocks Bewegungs-Sammlungen möchten eine Form der Erkenntnis als Erfahrungsraum schaffen. Dies ist gewiss ein weiterer spannender Ansatz für die museale Praxis.
Mit der Ausstellung Cumuli ist der Künstlergruppe Camelot ein interessantes Experiment geglückt. Denn die originelle Konzeption als Ausstellung / Archiv / Lager schafft es nicht nur eine vielfältige Auswahl von selten ausgestellten Künstlersammlungen zusammenzubringen. Auch der Ausstellungskatalog ist ungewöhnlich konzipiert: streng alphabetisch dem formalen Prinzip eines Archivkatalogs folgend. Die Mitglieder der Künstlergruppe vermögen es weiterhin spielend ihre Rollen zu wechseln, ihre eigene künstlerische Praxis mit einer kuratorischen zu verbinden. Die Künstler recherchieren über die Arbeit ihrer Kollegen und stellen sich gegenseitig aus. Sie übernehmen Aufgaben von Kuratoren, Kustoden, Museologen und Sammlern. Der historische Graben zwischen Theorie und Praxis in der Kunst verliert seine Grundlage und trägt zu einer fruchtbaren Erweiterung der Sammlungspraxis bei.
↑ 1. Die Zitate stammen aus Gesprächen mit Herbert Distel und Moira Zoitl am 8. Juni 2013, Berlin. Weitere Gespräche zur Arbeit und Ausstellung fanden mit Christin Lahr am 3. und 28. August 2013 sowie mit Katharina Karrenberg am 5. April 2013 und 18. August 2013 statt.
↑ 2. Wir verwenden hier die männliche Form, die weibliche Form ist stets mitgemeint.
↑ 3. Robert Gschwantner, Ralf Hoedt, Katharina Karrenberg, Jana Müller, Regine Müller-Waldeck, Simon Wachsmuth, Moira Zoitl.
↑ 4. L40 - Verein zur Förderung von Kunst und Kultur am Rosa-Luxemburg-Platz e.V
↑5. Teilnehmende KünsterInnen: Stefka Ammon + Robert Ziegler, Heike Bollig, Mauro Cerqueira, Marianna Christofides, Clegg & Guttmann, Daniela Comani,Pip Culbert, Hans Cürlis, Mark Dion, Herbert Distel, Robert Gschwantner, Ramon Haze, Ralf Hoedt, Michael Höpfner, Annette Hollywood, Sven Jakstat, Katharina Karrenberg, Martin Kippenberger, Daniel Knorr, Christin Lahr, Alexej Meschtschanow, Jana Müller, Regine Müller-Waldeck, Alexandra Navratil, Diane Nerwen, Phill Niblock, Arnold Odermatt, Anna Oppermann, Bernd Ribbeck, Annette Rose, Giovanna Sarti, Moe Satt, Christian Schwarzwald, Philip Topolovac, Simon Wachsmuth, Rebecca Wilton, Sibylle Zeh, Moira Zoitl
↑6. "Cumuli – Zum Sammeln der Dinge / On Collecting Things." Ausstellungskatalog. Hrsg.: Camelot (Robert Gschwantner, Ralf Hoedt, Katharina Karrenberg, Jana Müller, Regine Müller-Waldeck, Simon Wachsmuth, Moira Zoitl) mit / with Susanne Prinz und dem Verein zur Förderung von Kunst und Kultur am Rosa-Luxemburg-Platz e. V. / and the Incorporated Society for the Furtherance of Art and Cultureon Rosa-Luxemburg-Platz, Berlin, 2013.
↑7. Das Schubladenmuseum, ein ausgedienter Kasten von Gütermann’s Nähseide, besteht aus 20 Schubladen zu je 25 Fächern. Das Museum steht auf dem 501. Werk, einem Metallsockel von Ed Kienholz. Das real existierende Schubladenmuseum ist in der Sammlung des Kunsthauses Zürich/Schweiz. Siehe: http://www.schubladenmuseum.com/mod/smd/sammlung.php (20.07.2013)
↑8. Mehr zu „The File Room“ ist hier zu finden: http://www.thefileroom.org/documents/intro.html (20.07.2013)
↑9. Elena Esposito. Soziales Vergessen. Formen und Medien des Gedächtnisses der Gesellschaft. Tr. Alessandra Corti. Frankfurt/M : Suhrkamp Verlag, 2002.
↑10. Die Infra-Med-Reflektografie ist ein fotografisches Verfahren zum Sichtbarmachen flüchtiger Spiegelungen auf dem Computer Screen. Bei der fotografischen Koppelung von Zeichnung und digitalem Bild arbeitet die Künstlerin mit Schnitt- und Symmetrieachsen, an denen sich zwei Bilder brechen, spiegeln und eine neue Formation – eine Art Dynamogramm – bilden.
↑11. Dorothée Bauerle-Willert, Kontaminationen. Zu Katharina Karrenbergs VORTEX_KOMPLEX.
↑12. Eine ausführliche Besprechung dieser Praxis ist hier zu finden: http://www.research-arts.net/uebersetzen/ra_uebersetzen_%20natur-kultursammlungen.html
http://www.research-arts.net/uebersetzen/ra_uebersetzen_%20natur-kultursammlungen.html
↑13. „Das kulturelle Kapital kann in drei Formen existieren: (1.) in verinnerlichtem, inkorporiertem Zustand, in Form von dauerhaften Dispositionen des Organismus, (2.) in objektiviertem Zustand, in Form von kulturellen Gütern, Bildern, Büchern, Lexika, Instrumenten oder Maschinen, in denen bestimmte Theorien und deren Kritiken, Problematiken usw. Spuren hinterlassen oder sich verwirklicht haben, und schließlich (3.) in institutionalisiertem Zustand, einer Form von Objektivation, die deswegen gesondert behandelt werden muß, weil sie - wie man beim schulischen Titel sieht - dem kulturellen Kapital, das sie ja garantieren soll, ganz einmalige Eigenschaften verleiht.“ Pierre Bourdieu. Die verborgenen Mechanismen der Macht. Hamburg 1992, S. 49-75. Siehe: http://www.erzwiss.uni-hamburg.de/personal/lohmann/lehre/som3/bourdieu1992.pdf (1.08.2013)
↑14. Am 1. Januar 1994 wurde das Europäische Währungsinstituts (EWI, die Vorgängerinstitution der EZB) gegründet und wurde mit der Überprüfung der Haushaltslage der Mitgliedstaaten begonnen.
↑15. Svenja Hehner und Stella Veciana, Die zwei Seiten des Geldes, Rauminstallation und Kunstgeldscheinautomat. Deutsche Bank, Barcelona und Madrid (1993-94).
↑16. Zu diesem Bereich können ebenso der ausgestellte Film-Zyklus Creating Hands von Hans Cürlis (1926) und das Video Hands around Yangon von Moe Satt (2012) gezählt werden.
↑18. Ines Lindner, Minimalismus reloaded. Zur Typologie sozialer Tatsachen in Anette Roses Enzyklopädie der Handhabungen, 2010.
↑19. Zitate aus dem Interview mit Phill Niblock während des AV Festival 12, siehe: http://www.youtube.com/watch?v=jL4Jt4Tc_i4 (01.08.2013)
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